Eine fatale Konstellation

Die Gutachter im Prozess um den Tod der fünfjährigen Lea-Sophie bescheinigen den Eltern Schuldfähigkeit. Die umfangreiche Berichterstattung könnte sich strafmildernd auswirken

VON FRIEDERIKE GRÄFF

Die Mutter der verhungerten Lea-Sophie, Nicole G., ist voll schuldfähig. Das sagte der psychiatrische Gutachter gestern vor dem Landgericht Schwerin aus. Seinen Ausführungen nach war die 24-jährige Nicole G. in der Lage zu erkennen, dass ihre fünfjährige Tochter Lea-Sophie lebensbedrohlich abgemagert war und Hilfe brauchte. Warum es dennoch nicht zu „normgerechten Handeln“ kam, wie es im Gutachterdeutsch heißt, und das Kind schließlich an den Folgen seiner Unterernährung starb – das versuchte der Gutachter in seinem über einstündigen Vortrag zu klären.

Nicole G. besitze kein stabiles Selbstwertgefühl und habe dies unter anderem durch wenige, enge Beziehungen zu kompensieren versucht. Zugleich habe sie ein starkes Ich-Ideal entwickelt. Ihrer Tochter Lea-Sophie gegenüber habe sie eine vollkommene Mutter sein wollen – und sehr empfindlich auf alles reagiert, was sie als Angriff auf ihre Qualität als Mutter empfunden habe. Das galt unter anderem für die Kritik ihrer Adoptivmutter, aber auch für die Kontaktaufnahme des Adoptivvaters mit dem Schweriner Jugendamt.

Fatal wurde diese Konstellation, als Lea-Sophie auf die Geburt ihres Bruders mit Nahrungsverweigerung reagierte – und Nicole G. dies nach Auffassung des Gutachters als „narzisstische Kränkung“ empfand. „Sie fühlte sich von Lea-Sophie zurückgewiesen“, worauf Nicole G. passiv-aggressiv reagiert habe.

Nicole G., so fasste der Gutachter zusammen, zeige „eine neurotische Problematik“, sie reagiere ängstlich-vermeidend, leide aber nicht an einer Persönlichkeitsstörung oder einer schweren seelischen Abartigkeit, die ihre Schuldfähigkeit beeinträchtigte. Auch sei sie in ihrer Realitätswahrnehmung nicht eingeschränkt. Auch über Lea-Sophies Vater Stefan T. hatte ein Gutachter befunden, dass er voll schuldfähig sei.

Zweites Thema des zehnten Prozesstages war die Berichterstattung und deren Folgen für die Angeklagten: Nicole G. sagte, dass sie in der Untersuchungshaft von Mithäftlingen bedroht und beleidigt werde. „Man wird psychisch fertig gemacht.“ Stefan T. hatte berichtet, dass seine Mutter an ihrer Arbeitsstelle angefeindet werde. Beide Angeklagten führten dies unter anderem auf die Berichterstattung in den Medien zurück. Die Bild am Sonntag hatte vor Prozessbeginn ein Obduktionsfoto des Kindes abgedruckt. Der Vorsitzende Richter verlas Artikel aus der Bild-Zeitung, Welt online und der Ostseezeitung. Sollte das Gericht diese als vorverurteilend werten, besteht die Möglichkeit, dass die Folgen für die Angeklagten als strafmildernd in das Urteil einfließen.

Einige der anwesenden Journalisten reagierten kritisch auf das Vorgehen des Gerichts: Es sei nicht auszuschließen, dass Anwälte das Obduktionsfoto gezielt in Umlauf gebracht hätten, um ebenjene strafmildernden Umstände zu provozieren. Zudem habe die Kammer nicht von ihrem Hausrecht Gebrauch gemacht, um zu verhindern, dass Fotos aus weniger als einem Meter Abstand von den Angeklagten gemacht wurden – dies hatte das Gericht gestern kritisch angemerkt.