Das Hindernis heißt Scham

GESUNDHEIT In Osnabrück gibt es jetzt eine Zahnarztpraxis für Obdachlose und andere sozial Randständige. Manche waren seit Jahrzehnten nicht mehr auf einem Behandlungsstuhl

In der neuen Praxis läuft alles über ehrenamtliche Arbeit und Sachspenden

VON ANNE REINERT

Der Gang zum Zahnarzt fällt vielen schwer. Für manche PatientInnen aber ist er fast unüberwindbar. Das hat weniger materielle Ursachen, sondern liegt vor allem am Schamgefühl. Das hat Markus Liening in den vergangenen zwei Jahren immer wieder beobachtet. Liening ist Sozialarbeiter und in dieser Funktion hat er Drogenabhängige und Obdachlose in die Praxis begleitet, alte Menschen und andere, die aus verschiedenen Gründen lange nicht beim Zahnarzt waren. 20 oder 30 Jahre, sagt Liening, sei das bei einigen her gewesen. Entsprechend schlecht ist der Zustand ihrer Zähne. Und entsprechend groß die Scham.

Markus Liening ist Leiter des Projekts „Zahn um Zahn“, das vor zwei Jahren die katholische Hilfsorganisation Caritas in Osnabrück ins Leben gerufen hat. Bisher haben zwei Zahnärztinnen ehrenamtlich Patienten in ihren eigenen Praxen versorgt. Seit diesem Mittwoch nun hat das Projekt einen eigenen Behandlungsraum in der „Wärmestube“ des ehemaligen Franziskanerklosters. Dort werden künftig fünf ZahnärztInnen ehrenamtlich behandeln.

Die Wärmestube ist ein Anlaufpunkt für Obdachlose und andere sozial Benachteiligte. Sie erhalten dort Frühstück und Mittagessen, „alles umsonst“, sagt Schwester Antoinette Völker. Zusammen mit drei weiteren Ordensschwestern betreut sie die Einrichtung, die auch eine Duschmöglichkeit und eine Kleiderkammer vorhält. „Unsere Gäste sollen nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich aufgewärmt werden“, so Schwester Antoinette.

Wie in der Wärmestube selbst, läuft auch in der neuen Zahnarztpraxis alles über ehrenamtliche Arbeit und Sachspenden. Die Gerätschaften habe man günstig einem Kollegen abgekauft, der seine Praxis vor kurzem aufgegeben habe, sagt Elisabeth Unger. Sie ist schon von Anfang an bei „Zahn um Zahn“ dabei. Aber warum engagiert sie sich eigentlich? „Das war bei mir immer schon so“, sagt Unger und zuckt die Schultern.

Unger unterstreicht, wie wichtig die zahnärztliche Behandlung für die Gesundheit insgesamt ist: „Ein Zahn kann ein Krankheitsherd sein“, erklärt sie. Beschwerden im gesamten Organismus seien unter Umständen die Folge. Schon deshalb sei die neue Praxis in der Wärmestube wichtig. Aber eben auch deshalb, weil für viele PatientInnen die Hemmschwelle dorthin zu gehen niedriger sei, als in eine reguläre Praxis.

Wichtig ist den Initiatoren des Projektes, „keine Doppelstruktur zu schaffen“, sagte Günter Sandfort, Geschäftsführer des Osnabrücker Caritasverbandes, gestern bei der Eröffnung. Vielmehr sollen die PatientInnen so weit versorgt werden, dass sie sich danach wieder in eine reguläre Praxis trauen. Auch dem Sozialarbeiter Markus Liening ist wichtig, dass hier keinem niedergelassenen Zahnarzt etwas weggenommen werde. Das habe er auch in Gesprächen mit den Krankenkassen betont – die hatten ihm genau das vorgeworfen.

Seit anderthalb Jahren versucht Liening die Kassen dazu zu bringen, das Projekt zu unterstützen. Die aber geben stets zur Antwort: In Deutschland habe jeder eine Möglichkeit, zum Zahnarzt zu gehen. Dass das Problem vielfach nicht in einer fehlenden Krankenversicherung besteht, sondern vielmehr in psychosozialen Problemen, scheint den Kassenvertretern nicht klar zu sein.

Markus Liening hat noch einen weiteren Verdacht, warum die Versicherer seine Klienten mit ihren häufig beträchtlichen Zahnschäden gar nicht in den Praxen wollten: wegen der Kosten für die Behandlung.