RECHT AUF VERGESSENWERDEN
: Eine Frage der Selbstbestimmung

Wir verlieren nicht nur den Überblick, wir verlieren zunehmend auch die Entscheidungsfreiheit

Vor über 30 Jahren schöpfte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Volkszählung den Begriff der informationellen Selbstbestimmung und legte dar, warum das Grundgesetz sie als Menschenrecht schützt. Dieser auf der Würde des Menschen und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht basierende Wert wurde lange Zeit als technische Finesse behandelt, deren volles Ausmaß bis heute vielen Menschen verschlossen bleibt. In Wahrheit haben die Karlsruher Richter von damals den Grundstein für das Funktionieren einer freiheitlichen und emanzipativen digitalen Gesellschaft gelegt. Heute wird sichtbar, wie notwendig es wird, dass wir Souveränität und Kontrolle darüber haben, wann welche personenbezogenen Informationen über uns verarbeitet werden. Wir verlieren nicht nur den Überblick, wir verlieren zunehmend auch die Entscheidungsfreiheit und damit die Macht als Menschen im digitalisierten Markt und Staat.

Es ist eine große Errungenschaft, dass das Konzept der informationellen Selbstbestimmung als Menschenrecht von der Europäischen Union nicht nur seit 1995 EU-weit durch ein Rahmengesetz geregelt wurde, sondern mit dem Vertrag von Lissabon nun auch ausdrücklich benannt und in der EU-Grundrechtecharta geschützt wird. Auf dieser Grundlage hat der Europäische Gerichtshof nun endlich den Ball aus Karlsruhe aufgegriffen und mit seinen wegweisenden Urteilen zur Vorratsdatenspeicherung und zum „Recht auf Vergessenwerden“ bei Internetsuchmaschinen im vergangenen Jahr weitere Meilensteine zur Durchsetzung dieses Menschenrechts in Europa und der Welt gesetzt. Leider hat besonders das letztgenannte Urteil zu schweren Missverständnissen geführt. Dem hätten die Luxemburger Richter zwar besser vorbeugen können, doch in einer von Interessen dominierten Öffentlichkeit wird das Menschenrecht auf informationelle Selbstbestimmung zunehmend absichtlich gegen die mindestens ebenso großen Errungenschaften der Meinungs- und Informationsfreiheit ausgespielt.

Im Urteil des Europäischen Gerichtshofs geht es nicht um das „Recht auf Vergessen“. Mit keiner Silbe wird erwähnt, dass es irgendein Recht gäbe, von jemandem zu verlangen, etwas zu vergessen. Dies wäre nicht nur wider die menschliche Vernunft, es wäre auch ein tiefer Eingriff in die Grundwerte einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. Den Richtern aus Luxemburg dies immer wieder zu unterstellen, ist zugespitzt schlicht eine dreiste Lüge. Stattdessen geht es einzig und allein um die Frage, ob das Unternehmen Google das Recht hat, bei seinem Suchmaschinendienst die Datenschutzrechte von europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu missachten oder eben nicht. Die seit 1995 geltenden Datenschutzregeln der EU legen fest, dass die Daten von Bürgerinnen und Bürgern nur mit Einwilligung der Betroffenen oder auf Grundlage gesetzlich festgelegter Erlaubnistatbestände verarbeitet werden dürfen. Wenn Google über uns Daten sammelt und verknüpft, werden wir allerdings nicht gefragt. Auch erfüllt die Suchmaschine etwa nicht das Kriterium, eine redaktionelle Veröffentlichung zu sein. Hierzu stellt der Gerichtshof nämlich klipp und klar fest, dass sie eine Ausnahme zum Datenschutz darstellt und lediglich die Abwägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts achten muss. Stattdessen sammelt Google die Daten jedoch für seine kommerziellen Dienste auf Grund einer Interessenabwägung mit dem Datenschutzrecht.

Wenn ein kommerzieller Suchmaschinendienst bei der Suche nach einem bestimmten Namen entsprechend seiner eigenen Regeln Links anzeigt, bei denen weder die Person selbst noch die Öffentlichkeit ein besonderes Interesse an der Verbreitung haben, muss diese Situation behandelt werden, als ginge es um das Online-Archiv einer Zeitung oder um eine neu aufbereitete Recherche. Es ist daher richtig, dass der Gerichtshof bei den von Google erstellten Links und deren Entfernung zu einem gänzlich anderen Ergebnis kommt, als wenn es um die Veränderung oder gar Löschung von journalistischen Inhalten geht.

Nichtsdestotrotz sagt der Gerichtshof: Bei der Bewilligung dieses Rechts gibt es Hürden. Nicht jede oder jeder wird nun in Suchmaschinen Links entfernen lassen können. Stattdessen braucht es eine Konkretisierung der Fälle durch die Suchmaschinenbetreiber und Datenschutzbehörden. Die Umsetzung des Urteils ist da noch nicht zufriedenstellend. So wird derzeit nicht ausreichend die Einschätzung von verantwortlichen Redakteuren bei der Entlinkung redaktioneller Inhalte eingeholt, um unsachgemäßen Entscheidungen vorzubeugen.

 Jan Philipp Albrecht, 32, ist stellvertretender Vorsitzender des Innen- und Justizausschusses im Europäischen Parlament und Verhandlungsführer für die geplante EU-Datenschutzverordnung