Wirtschaftsliberalismus als Religion

PHILOSOPHIE Der Glaube an die alles regulierende unsichtbare Hand des freien Marktes regte Giorgio Agamben an, einen Essay zur „ökonomischen Theologie“ zu schreiben, der nun auf Deutsch vorliegt

Im Wahlkampf von 2009 bezichtigte der damalige Finanzminister Steinbrück die FDP mehrmals der „Markttheologie“. Er meinte damit, dass Westerwelles „Knalltütensekte“ (Diedrich Diederichsen) der ominösen Selbstregulierung der Wirtschaft durch die unsichtbare Hand eine erlösende Funktion zugestehe. Tatsächlich hat das Heilsversprechen dann auch viele beseelt.

Zwar ist nicht geklärt, woher Steinbrück den Gedanken nahm, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass das Verdienst Giorgio Agamben gebührt. Dieser wiederum sagte während eines Vortrages in der Berliner Volksbühne einmal, er hasse es, etwas verdient zu haben. Er interessiere sich ausschließlich für das Unverdiente, für die Gnade.

Tatsächlich hat der mitunter laxe Theoretiker vor allem Glück beim Timing seiner Thesen. Seine Theorie des Ausnahmezustandes von 1995 wurde trotz ihrer wissenschaftlichen Schwächen durch die Ereignisse am 11. September 2001 verifiziert. Ähnlich erging es seinem Buch „Il regno e la gloria“ („Herrschaft und Herrlichkeit“) von 2007: Ein Jahr vor der Finanzkrise legte Agamben seine Deutung der ökonomischen Theorie als Theologie vor.

Das Werk brilliert in genauen Beobachtungen wie der, dass sich der Apostel Paulus nie als Politiker, sondern als Oikonomos bezeichnet, was frei übersetzt eben „Ökonom“ bedeutet. In Abgrenzung zu Carl Schmitts und Jacob Taubes’ Begriff der „politischen Theologie“ entwirft Agamben eine „ökonomische Theologie“. Von Paulus ausgehend skizziert Agamben eine Geschichte christlicher Aspekte der Wirtschaftstheorie, die bis zu Adam Smith reicht, und kommt zum Schluss, dass das Dogma der unsichtbaren Hand des Marktes nur aus der christlichen Theologie entwickelt werden konnte.

Ist die „freie Wirtschaft“ also spezifisch christlich? Sollten Säkularisierungsforderungen nicht den Rückzug der Religion aus der Politik, sondern aus der Ökonomie betreffen? Und hat – außer Benjamin und Marx in ihrer Kritik der „metaphysischen Mucken“ der Ware – die Verbindung von Ökonomie und Religion noch niemand kritisiert?

Keinesfalls. 2006 beispielsweise setzte sich Duncan K. Foley von der New Yorker New School mit den theologischen Implikationen der unsichtbaren Hand auseinander und gebrauchte dort den Begriff „Economic Theology“. Was Agamben in Bezug auf Antike und Neuzeit nahelegt, zeigte Foley in Bezug auf Milton Friedman und die Chicago School: Das Paradigma einer Selbstregulierung des Marktes habe sich wie ein religiöses Dogma von Adam Smith ausgehend durch die Generationen vererbt.

Der Verweis auf Foleys zeitkritisches Buch offenbart ein Grundproblem des neuen Agamben: Obgleich dieser mit jedem Satz ein vages Ressentiment gegen den Wirtschaftsliberalismus beschwört, geht er nur kursorisch auf die Gegenwart ein und legt stattdessen eine „genealogische“ Untersuchung vor.

„Genealogien sind billig, sie kosten nur Zeit in Bibliotheken“, sagte Taubes einmal. Tatsächlich ist es im Hinblick auf die neuzeitliche Ideengeschichte möglich, jeden beliebigen Gedanken der politischen Theorie auf christliche Ursprünge zurückzuführen. Sobald man nichts Theologisches mehr findet, spricht man verschwörerisch von einer „Säkularisierung“ im Schmitt’schen Sinne, um damit, wie schon Blumenberg monierte, paradoxerweise zugleich einen Bruch und eine Kontinuität zu bezeichnen.

Doch dieser methodologische Einwand wiegt nicht so schwer wie das Verpassen des besten Zeitpunkts, der für Agambens Arbeiten stets wichtiger war als wissenschaftliche Plausibilität. Zwei Jahre nach der Krise liegt „Herrschaft und Herrlichkeit“ auf Deutsch nun einfach zu spät vor, um hier eine Debatte zu entfachen, die seiner Originalität gebührt. JOHANNES THUMFART

Giorgio Agamben: „Herrschaft und Herrlichkeit“. Suhrkamp, Berlin 2010, 368 S., 20 Euro