Glücklich ohne Gott

FELDFORSCHUNG Pirahã können weder rechnen noch an Gott glauben. „Das glücklichste Volk“ nennt der Linguist Daniel Everett die Amazonas-Indianer, die er seit 1977 studiert

Kein einziger erwachsener Pirahã hatte gelernt, eins plus eins verlässlich korrekt zusammenzurechnen.

VON KATHARINA GRANZIN

Die Linguistik ist hierzulande keine sehr abenteuernahe Disziplin und die wissenschaftliche Feldforschung hat seit den Zeiten Alexander von Humboldts einen gewissen Bedeutungsverlust erlitten. Amerika hat es da besser. Dass Linguisten, als eine Art anthropologische Subspezies, durch die Urwälder der Südhalbkugel streifen, um noch unerforschte (und oft bedrohte) Sprachen zu erfassen und zu analysieren, ist jenseits des Atlantiks nicht halb so ungewöhnlich wie diesseits. Doch die Motive hinter der engagierten Feldforschung sind nicht immer zur Gänze wissenschaftlicher Art.

Daniel Everett, der 26 Jahre alt war, als er sich 1977 das erste Mal bei den Pirahã im Amazonasgebiet aufhielt, hatte zuvor Linguistik studiert, doch im Grunde nur als Mittel zum Zweck. Der gläubige Christ war im Auftrag des Summer Institute of Linguistics unterwegs, das unschätzbare Verdienste bei der Erforschung und Dokumentierung von Minderheitensprachen weltweit hat, doch seiner evangelikalen Missionierungstätigkeiten wegen nicht unumstritten ist.

Vom Glauben abgefallen

Everett sollte die Sprache der Pirahãerforschen und erlernen, um irgendwann die Bibel übersetzen und den Indianern die Lehren Jesu nahe bringen zu können. Die Missionare, die vor ihm bei den Pirahã lebten, waren an beidem, Sprache und Gottesvermittlung, gescheitert. Man kann sich gut vorstellen, dass es nicht nur die reine Gottesliebe war, die Daniel Everett als jungen Missionar antrieb, sondern auch der große Ehrgeiz, es besser zu machen.

Als er das zweite Mal zu den Pirahã kam, brachte er seine Frau und die drei Kinder mit; das kleinste erst ein Jahr alt. Auch Everett scheiterte, obwohl es ihm im Laufe vieler langer Aufenthalte gelang, Pirahã so gut zu lernen, dass er das Markusevangelium übersetzen und in einer Art Diashow im Dschungel vortragen konnte. Aber die Pirahã wollten seinen Jesus nicht und brauchten auch sonst keinen Gott. Am Ende war es Everett selbst, der vom Glauben abfiel – als Missionar vom Glauben an Gott, als Linguist vom Glauben an die Allgemeingültigkeit der einflussreichsten Theorie der modernen Linguistik, der generativen Transformationsgrammatik.

Denn manche Sprachstrukturen, die Noam Chomsky und seine Schule für universell und dem menschlichen „Sprachinstinkt“ angeboren halten, sind laut Everett im Pirahã nicht nachzuweisen. Das gilt auch für das als grundlegend geltende Prinzip der Rekursion, die es erlaubt, hypotaktische Strukturen (Nebensätze) zu bilden. Dem Pirahã, behauptet Everett, fehle eine Syntax. Die Sprache folge einem anderen Prinzip, dem „Prinzip des unmittelbaren Erlebens“, das Everett in schöner wissenschaftlicher Notation „IEP“ getauft hat („immediacy of experience principle“). Dem IEP fehlen kulturelle Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, sowie Mythen und Göttererzählungen.

Sapir-Whorf-Hypothese

Weitere Dinge sind auffällig: etwa die Abwesenheit von Zahlwörtern. Das Pirahã kennt nur zwei Ausdrücke zur Mengenbezeichnung, die manche Linguisten mit „eins“ und „zwei“ übersetzen, Everett aber eher als „wenig“ und „mehrere“ interpretiert. Everett und seine Familie bemühten sich monatelang, den Pirahã – die darum gebeten hatten, da sie von den portugiesischsprachigen Händlern, die im Dschungel unterwegs sind, regelmäßig betrogen wurden – Rechnen beizubringen, und brachen den Versuch schließlich erfolglos ab. Kein einziger erwachsener Pirahã hatte es in dieser Zeit gelernt, bis zehn zu zählen oder eins plus eins zusammenzurechnen.

Dieses Unvermögen, Zahlen zu begreifen, sowie das Fehlen einer tradierten Mythenwelt seien, so Everett, abhängig vom kulturellen Konzept des IEP, ohne das die Sprache der Pirahã nicht zu verstehen sei. Seine Einsichten führten ihn schließlich dazu, Chomskys Theorie in ihrer bisherigen Ausprägung zu verwerfen und die Sapir-Whorf-Hypothese, nach der das Denken durch die Sprache geformt wird, in einer modifizierten Form zu rehabilitieren. In einer interessanten Analogie schließt er die Pirahã-Kultur kurz mit Chomsky, wenn er schreibt: „Unsere Theorien gleichen Kulturen. Genau wie es in der Kultur der Pirahã Lücken gibt, so haben auch manche Theorien Lücken an Stellen, an denen andere Theorien vielleicht stichhaltige Erklärungsmechanismen bieten.“

Um Nichtlinguisten durch seine Argumentation zu helfen, flicht der Autor zwischendurch eine wunderbar prägnante kleine Einführung in linguistische Grundlagen ein. Doch sein Buch ist ohnehin viel mehr als ein wissenschaftlicher Rechenschaftsbericht. Es ist zudem noch Abenteuerreportage, persönlicher Bekenntnis- und Entwicklungsroman und am Grunde all dessen eine großartige Lektion in unabhängigem Denken.

Eine beneidenswerte Eigenschaft des Pirahã, das eine Tonsprache ist (die Tonhöhe eines Lautes wirkt bedeutungsunterscheidend), ist übrigens, dass es notfalls ohne Bedeutungsverlust auch gesummt oder gepfiffen werden kann. Das braucht man natürlich nur im Dschungel. Dafür braucht man dort vieles andere offenbar nicht. So verschieden können Menschen sein.

Daniel Everett: „Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas“. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010, 414 S., 24,95 Euro