Die Taktik der Interpretation

PSYCHOANALYSE Jacques Lacans Texte markierten eine Abkehr vom erzählerischen Prosaideal Sigmund Freuds. August Ruhs hat sich mit Lacan und dessen radikaler Interpretation der Psychoanalyse neu befasst

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan hatte es in Deutschland nie so ganz leicht. Symptomatisch dafür ist seine unerwiderte Bewunderung des Philosophen Martin Heidegger. Zum ironischen Höhepunkt wurde ein Brief Lacans an den Philosophen, den dieser so kommentierte: „Mir scheint, der Psychiater bedarf des Psychiaters“.

Das Misstrauen gegen den psychoanalytischen Denker mit seiner Ablehnung alles Volksrednerhaften ist hierzulande nach wie vor groß. Seine Texte markieren eine Abkehr vom erzählerischen Prosaideal Sigmund Freuds, dessen Krankengeschichten sich wie Novellen lesen. Lacan hingegen, der den Begründer der Psychoanalyse einer radikalen Neuinterpretation unterzieht, pflegt einen am Surrealismus geschulten Stil voller Neologismen und Wortspiele. Kurz gesagt, Lacan ist ein Autor, der einen ziemlich im Regen stehen lässt.

Hilfestellungen in Form von Einführungen gibt es zahlreiche, allerdings bewegen sich viele Interpreten so stark im Lacan’schen Idiom, dass sie Uneingeweihten den Zugang ebenfalls schwer machen. Hinzu kommt, dass es bei Lacan keinen Begriffsapparat mit Definitionen gibt, weil er die Bedeutungen seiner Ausdrücke stets flüssig hält. August Ruhs versucht sich jetzt an einem Kompromiss. In der ersten Hälfte seiner Einführung stellt der Leiter der Wiener Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie Lacan aus klinisch-theoretischer Perspektive vor, um anschließend auf die „angewandte Psychoanalyse“ einzugehen. Ruhs, Mitbegründer und Vorsitzender der Wiener Lacan-Schule, interessiert neben der Praxis vor allem die kulturwissenschaftliche Wende der Psychoanalyse, zu der Lacan maßgeblichen Anstoß gab.

Durch diese Doppelstrategie zerfällt das Buch in zwei sehr ungleiche Hälften. Im theoretischen Teil konzentriert sich Ruhs auf Lacans Revision der Freud’-schen klinischen Strukturen Psychose, Neurose und Perversion, wobei er auch Freud als Autor ausgiebig zu Wort kommen lässt. Lacans Beeinflussung durch den Strukturalismus im Anschluss an den Linguisten Ferdinand de Saussure wird ebenfalls Rechnung getragen. Die eigene Terminologie Lacans jedoch bringt Ruhs mitunter recht unvermittelt und kaum erläutert ins Spiel, sodass auch er weniger vorbereiteten Lesern nicht sehr entgegenkommt.

Das ist schade, denn im zweiten Teil wird die Sprache merklich entspannter, der Referatsstil weicht einer freieren Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten, Lacans Ideen auf Kunst, Film und Musik anzuwenden. Lacans Blicktheorie, laut der beim Sehen nicht das aktive Blicken, sondern das Angeblicktwerden vorrangig ist, demonstriert Ruhs sehr schön mit einer Illustration von Tex Rubinowitz: Eine Gestalt vor einem Fernseher starrt auf die leere Mattscheibe und fragt sich: „Was will das Ding? Warum starrt es mich so an?“ Wie man als Betrachter von Kunstwerken angestarrt und damit selbst zum Objekt gemacht wird, zeigt Ruhs am Beispiel der von ihm entwickelten „psychoanalytisch orientierten Werkbetrachtungen“ als museumspädagogische Erfahrung in der Gruppe. Deren frei assoziierte Deutungen dienen ihm zugleich als Anzeichen für die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit einer solchen „Psychoanalyse der Sachen“, wie er seinen Ansatz im Rückgriff auf den Philosophen Jean-Paul Sartre nennt. Mit dieser Sicht, in der es weniger um Definitionen als um konkrete Anwendungsfälle geht, präsentiert Ruhs Lacan als einen Autor, der zu ganz eigenen Interpretationspraktiken anregen kann. Die theoretische Einführung ersetzt das freilich nicht.

TIM CASPAR BOEHME

August Ruhs: „Lacan. Eine Einführung in die strukturale Psychoanalyse“. Löcker Verlag, Wien 2010, 187 Seiten, 14,80 Euro