ANDREAS FANIZADEHLEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Thoreau war ein Stuttgarter

Ich habe mir den Wahlspruch zu eigen gemacht: „Die beste Regierung ist die, welche am wenigsten regiert.“ So beginnt Henry David Thoreaus berühmter Essay „Civil Disobedience“ von 1848/49. Thoreau rief zum zivilen Ungehorsam gegen einen ungerechten Staat auf, der in jenen Jahren in seinen Augen in Gestalt der USA die Humanität verriet und im Namen der Sklaverei Krieg gegen Mexiko führte. Der Text wurde 100 Jahre später zu einem der Klassiker der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.

Unter dem Titel „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ wurde er ab 1966 auch auf Deutsch verbreitet. Zunächst im Zusammenhang der Studentenbewegung, dann professionell im Zürcher Diogenes Verlag. 1969 sprach der legendäre österreichische Schauspieler Helmut Qualtinger Thoreaus Traktat. Die historischen Aufnahmen sind nun Grundlage eines Hörbuchs geworden (Diogenes, Zürich 2010).

„Es gibt ungerechte Gesetze. Sollen wir ihnen befriedigt gehorchen, oder sollen wir es auf uns nehmen, sie zu bessern und ihnen nur so lange gehorchen, bis wir das erreicht haben, oder sollen wir sie vielleicht sofort übertreten?,“ so tönt die eindringliche Stimme Qualtingers aus den aufgeregten späten 60er Jahren nach heute herüber. „Die Leute glauben im Allgemeinen, unter einer Regierung, wie wir sie jetzt haben, sollten sie warten, bis sie die Mehrheit zu den Änderungen überredet haben.“ Aber nicht so Thoreau, der als früher moralischer Rigorist Ausnahmesituationen sieht. Dann nämlich, wenn parlamentarisch legitimierte Beschlüsse universelle Werte der Demokratie unterschreiten. Thoreau, der auch ein früher Konsumkritiker und Aussteiger war, beherzigte einen an die Verantwortung des Individuums rückgebundenen, demokratischen Radikalismus.

„Von einem tiefer gelegten Blickpunkt aus“, so Thoreau, kann die Verfassung eines Staats sehr gut sein. Doch von einem höheren aus könnten Aktionen des zivilen Ungehorsams genau diese erweitern und Fehlentscheidungen korrigieren.

Andreas Fanizadeh leitet das Kulturressort dieser Zeitung