Glaube an den Unparteiischen

GERECHTIGKEIT Der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen fordert auf zum Gebrauch der öffentlichen Vernunft

Nicht jedes Gerechtigkeitsproblem ist durch Überlegung zu lösen

VON KATHARINA GRANZIN

Amartya Sen ist einer der international einflussreichsten Vordenker globaler Demokratisierung, Wohlfahrt und Chancenverteilung. In Deutschland trat er zuletzt als Anti-Huntington in Erscheinung. In seinem Buch „Die Identitätsfalle“ argumentierte er gegen Samuel Huntingtons These vom „Kampf der Kulturen“, dass es absurd ist, Menschen auf einen einzigen Aspekt ihrer Identität zu reduzieren und daraus einen grundlegenden Gegensatz verschiedener „Kulturen“ abzuleiten.

In seinem neuen Buch „Die Idee der Gerechtigkeit“ nimmt Sen diese Einsichten wieder auf. Er umkreist das Konzept der Gerechtigkeit als eine der zentralen Fragestellungen menschlichen Zusammenlebens. Keine theoretische Definition von Gerechtigkeit soll Basis seiner Argumentation sein, sondern ein pragmatischer Ansatz, der nach „Handlungsmöglichkeiten zur Beseitigung von Ungerechtigkeiten“ fragt, nach einer „Basis für den Gebrauch der praktischen Vernunft“. Ausführlich arbeitet Sen sich dafür an John Rawls’ Standardwerk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ ab, das einen institutionell verankerten Gerechtigkeitsbegriff fokussiert. Sen selbst bestreitet keineswegs Nutzen und Notwendigkeit institutionell verankerter Rechte, betont jedoch unablässig, dass zum Erreichen gerechter Ziele der praxisorientierte „Gebrauch öffentlicher Vernunft“ mindestens ebenso wichtig sei.

Die Argumentationskette, die Sen verfolgt, um seine auf Rawls zielende Kritik wasserdicht festzuzurren, gerät leider im ersten Drittel des Buches recht langatmig. Das mag einerseits an der betonten Höflichkeit des Kritikers liegen. Andererseits wird man in diesen Passagen wahrscheinlich zur Zeugin eines generellen linguistischen Grundproblems des übersetzten Philosophierens. Da das Englische nicht über dieselbe Begriffsdichotomie von „Recht“ und „Gerechtigkeit“ verfügt wie das Deutsche („justice“ in „The Idea of Justice“ kann beides bedeuten), muss Sen sehr viel Sorgfalt darauf verwenden, den Unterschied zwischen beiden Konzepten argumentativ herauszuarbeiten. Das macht die spürbar durchdachte Übersetzung von Christa Krüger auch sehr nachvollziehbar mit; doch ein deutsch schreibender Philosoph hätte hier vermutlich einen kürzeren Weg genommen.

Aufschlussreich allerdings ist Sens Herleitung beider im Englischen so nicht vorhandener Begriffe aus dem altindischen Rechtssystem. Im Sanskrit steht das Konzept des niti jenem des nyaya gegenüber, wobei ersteres sich auf die Konformität mit einem bestimmten Rechts- oder Normsystem bezieht, letzteres dagegen auf die individuelle Praxis „gerechten“ Handelns – den deutschen Konzepten „Recht“ vs. „Gerechtigkeit“ scheinen niti und nyaya zumindest eng verwandt zu sein. Sen, der dem niti allein nicht traut, macht gleichzeitig aber deutlich, dass man, wenn man sich allein auf das nyaya verlässt, sich vor kaum zu lösende Entscheidungsprobleme gestellt finden kann. Er illustriert dies mit dem Beispiel dreier Kinder, die sich um eine Flöte streiten: Eines hat sie hergestellt; eines ist so arm, dass es sonst kein Spielzeug besitzt; und das dritte kann als einziges Flöte spielen. Es ist dies ein Problem, das anscheinend allein innerhalb eines prinzipienfesten niti-Systems entschieden werden kann. Aber wäre damit Gerechtigkeit erreicht?

Wer von Sen letztgültige Antworten erwartet, wird enttäuscht werden. Mehrere hundert Seiten wird er darauf verwenden, uns in Überlegungen darüber hineinzuziehen, was in einer gerechten Gesellschaft an zu schützenden Werten zugrunde gelegt werden solltet. Er wird seine Theorie des Capability-Ansatzes nachvollziehbar erläutern und unsere Zustimmung finden, wenn er darlegt, die Frage der sozialen Gerechtigkeit sei vor allem eine der Verteilung von persönlichen Freiheiten und Chancen. Ganz am Ende wird er noch einmal auf das Flötenbeispiel zurückkommen – mit dem Ergebnis, dass „nicht jedes Entscheidungsproblem, für das die Idee der Gerechtigkeit eine Rolle spielt, mittels durchdachter kritischer Überprüfung zu lösen ist“.

Es würde einen Fehler bedeuten, auf dieses Fazit mit Entmutigung zu reagieren. Eher ist es als Herausforderung anzunehmen, umso mehr die praktische Vernunft zu gebrauchen: „Wir gehen so weit, wie die Vernunft uns leitet.“ Das mag manch einem sehr vage vorkommen, doch eben darin liegt Sens Antwort. Gerechtigkeit ist ein universaler Wert, der jedoch nicht qua Gesetzgebung und anderer gesellschaftlicher niti festgezimmert werden kann, sondern immer wieder qua „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ verhandelt werden muss. Eben auf diese Weise konstituiere sich Demokratie. „Öffentlich“ bedeutet zudem in Sens Definition von Demokratie nicht nur, alle Stimmen innerhalb einer bestimmten Gesellschaft zu hören, sondern den Blick von außen mit einzubeziehen. Er nimmt damit ausdrücklich Bezug auf Adam Smith, der bereits vor 250 Jahren die Wichtigkeit des unparteiischen Zuschauers bei der Bewertung von Gerechtigkeitsproblemen betonte.

Wenn man Sens Überlegungen – als Erweiterung von Kants kategorischem Imperativ – als ethische Forderungen an die gesamte Menschheit betrachtet, so sind die Aussichten zwar recht düster, jemals zu jenem idealen Zustand einer überall von der öffentlichen Vernunft Gebrauch machenden Weltgesellschaft zu gelangen. Doch auch wenn Sens Argumentation durchaus aufs Globale zielt, betont er vor allem die Wichtigkeit der „praktischen Realisierbarkeit“ von konkreten Maßnahmen zur Behebung manifester Ungerechtigkeit. Und wer seine Grundthesen in Handlungsanweisungen ummünzen möchte, könnte, kurz gefasst, auch sagen: think global, act local.

Amartya Sen: „Die Idee der Gerechtigkeit“. Aus dem Englischen von Christa Krüger. C. H. Beck, München 2010. 493 Seiten, 29,95 Euro