Luxusschiffe mit Parteiauftrag

ARBEITER-UND-BAUERN-STAAT „Traumschiffe des Sozialismus“ zeigt die DDR aus einem maritim-touristischen Blickwinkel. Es ist das erste Buch, das sich mit diesem Kapitel der DDR beschäftigt

Der Ruf „Mann über Bord“ klingt nach einem Narrenschiff

VON BARBARA BOLLWAHN

Es beginnt mit einem Notizzettel. Nach dem Volksaufstand 1953 entwirft der Vorsitzende des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds eine Skizze für ein gewerkschaftseigenes Kreuzfahrtschiff. Mit der Aussicht auf ein außergewöhnliches Reiseerlebnis soll die Zustimmung zur Partei gesteigert und ein Anreiz zur Leistungssteigerung geschaffen werden. Im Sommer 1958 verkündet ein Abgesandter der Wismarer Mathias-Thesen-Werft auf dem fünften Parteitag der SED den Bau des Urlauberschiffs. Seit 1960 und teilweise bis zum Ende der DDR schippern drei sozialistische Urlauberschiffe durchs Mittelmeer, an Spanien, Portugal, Gibraltar, Dänemark und England vorbei, durch die Ägäis oder in die norwegischen Fjorde: Die „Völkerfreundschaft“, die „Fritz Heckert“, die „Arkona“.

Etwa 9.000 „politisch zuverlässige“ Bürger dürfen pro Jahr mit einem „Sammelreisevisum“ auf große Reise gehen. Auch das Essen an Bord hat kaum etwas mit dem sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat zu tun: Schildkrötensuppe und gespicktes Rinderfilet, Bananen und kernlose Apfelsinen stehen auf dem Speiseplan. Die Mehrheit der DDR-Bürger muss mit dem Feriendienst des FDGB vorlieb nehmen.

„Die Geschichte der drei DDR-Urlauberschiffe“, schreibt der Autor im Vorwort, biete „einen Zugang zur Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte des SED-Staats aus einem spezifischen, maritim-touristischen Blickwinkel“. Geschrieben hat die 800 Seiten umfassende Geschichte der Historiker und Journalist Andreas Stirn, sein Vater ist 1966 mit der „Fritz Heckert“ nach Leningrad gefahren. Auch wenn das Buch nur mit knapp zwei Dutzend Fotos versehen ist und man gerne mehr sehen würde, ist sie äußerst interessant. Das liegt daran, dass der Autor einer ganzen Reihe von interessanten Fragen nachgeht: Wie konnten sie trotz Mauer und Mangelwirtschaft betrieben werden? Waren sie politisch-ideologische „Inseln der Absonderung“? Was wurde unternommen, um zu verhindern, dass die Reisen zu einer „unzulässigen Grenzüberschreitung“ gerieten?

Der Autor betrachtet die Schiffe weniger als touristisches Angebot, sondern als Staatsschiffe, die ihre Existenz politisch-propagandistischen Motiven und Entscheidungen der SED-Spitze zu verdanken haben. Dem Buch vorangestellt ist ein Bibelpsalm, den Sebastian Brant seinem 1449 veröffentlichten „Narrenschiff“ vorausschickte. Statt nach „Narragonien“ fahren die ostdeutschen Kreuzfahrtschiffe durch westliche Hoheitsgewässer und manchmal legen sie in Häfen des nichtsozialistischen Auslands an. Damit stehen sie in einem paradoxen Kontrast zu Grenzregime, Mangelwirtschaft und Diktatur des Proletariats. Zudem werden die Schiffe an skandinavische und westdeutsche Reisebüros verchartert und Passagiere aus dem Westen von Stewardessen aus dem Osten bedient – ein devisenbringender Spagat zwischen „Dienstleistungsexport für den imperialistischen Staat“ und „wachsamer Zusammenarbeit mit dem Klassengegner“.

Auch wenn die Kreuzfahrten „ein Stück sozialistischer Schule“ sein sollen, gelingt das nicht immer. Es gibt sexuelle Beziehungen zwischen Stewardessen und Einheimischen, zwischen Besatzungsmitgliedern und Passagieren, Schmuggel und Saufgelage. Auch der politische Klassenstandpunkt lässt bisweilen zu wünschen übrig. In dem Kapitel „Disziplinierungs- und Erziehungsversuche an Bord“ ist zu lesen, was die Abgesandten des FDGB-Bundesvorstands nach einem Stopp in Stockholm feststellen: „Bei einem großen Teil der Urlauber hat der Besuch Stockholms die vorherigen Eindrücke (Leningrad!) stark zurückgedrängt. Dieser Besuch Schwedens ist in keiner Weise zu vertreten. Wir sind überzeugt, dass ein großer Teil der Urlauber mit Vorstellungen vom ,schwedischen Sozialismus‘ und ähnlichen Auffassungen zurückkommt.“ Fortan bemüht sich der Gewerkschaftsbund verstärkt um die ideologische Hoheit an Bord – mit Vorträgen über den Kampf gegen Franco, das Filmschaffen in der DDR, die Kollektivierung der Landwirtschaft. Doch weder das noch mitreisende Stasi-Mitarbeiter können verhindern, dass die Urlauberschiffe auch zur Republikflucht genutzt werden. Zwischen 1962 und 1989 flüchten mindestens 225 Passagiere. Der Ruf „Mann über Bord!“ auf einem sozialistischen Traumschiff klingt in der Tat nach einem Narrenschiff.

■ Andreas Stirn: „Traumschiffe des Sozialismus“. Metropol Verlag, Berlin 2010, 816 Seiten, 29,90 Euro