Mehr als nur ein Befreiungsmythos

VERÄNDERUNG Ruhig ist es um die Zapatisten geworden. Zu ruhig, findet die Soziologin Raina Zimmerling und hat die Rebellen als neues Vorbild emanzipatorischer Bewegungen unter die Lupe genommen

Sie entziehen den alten klientelistischen Strukturen durch basisdemokratische Alternativen den Boden

Revolutionen sind das klassische Mittel der gesellschaftlichen Veränderung. Auch in Mexiko, wo die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) vom im Süden liegenden Bundesstaat Chiapas aus für den revolutionären Wandel eintritt.

Doch anders als ihre Vorgänger vom Ejército Libertador del Sur unter Emiliano Zapata setzen die Kämpfer von heute nicht auf die Macht der Waffen. Militärische Angriffe auf die Armee sind schlicht nicht vorgesehen, und zentrales Ziel ist es auch nicht, die Macht zu erobern, sondern gesellschaftliche Veränderung anzuschieben.

Eine Lehre aus der Revolution von 1910? Der Schluss liegt nahe, denn die historische Revolution gilt unter Mexikos Linken als Unvollendete. Emiliano Zapata und seine Bauernarmee haben es letztlich nicht geschafft, die Parole „Tierra y Libertad“, Land und Freiheit, real werden zu lassen. Es hat nicht gereicht zum kompletten Sturz der alten Ordnung und zur Umverteilung der entscheidenden Ressource – von Ackerland.

Um das und die darin verborgenen Ressourcen geht es auch einhundert Jahre später immer noch. Aber anders als 1910 basteln die Zapatisten von heute ruhig und zielstrebig an gesellschaftlichen Veränderungen in den Gemeinden in Chiapas. Sie stellen in den Dörfern die Systemfrage, entziehen den alten klientelistischen Strukturen durch basisdemokratische Alternativen den Boden, schreibt Raina Zimmering in „Zapatismus – ein neues Paradigma emanzipatorischer Bewegung“.

Darin nimmt die in Österreich lehrende Soziologin und Historikerin die zapatistische Bewegung unter die Lupe und analysiert deren Entstehung im Kontext der mexikanischen Geschichte. Dabei stellt sie auch die Frage, warum es so ruhig um die Bewegung geworden ist, nachdem der Marsch auf die Hauptstadt im Jahr 2001 nicht zum gewünschten Ziel, eben der Aufnahme des Abkommen über indigene Rechte und Kultur in die Verfassung, geführt hat.

Sie schildert die Enttäuschung, die Phase der Neuorientierung, die die rund 30.000 Mitglieder zählende Bewegung nach dem Scheitern des Dialogs mit der Regierung und den Parteien durchläuft, und die Hinwendung zu den außerparlamentarischen Bewegungen in Mexiko. Die „andere Kampagne“ nennen die Zapatisten die Umorientierung auf neue Bündnispartner – aus den Gewerkschaften, aus dem Spektrum der außerparlamentarischen Linken, aus den sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Protestgruppen aus Bundesstaaten wie Oaxaca oder Guerero.

Mit der „anderen Kampagne“ überschritten die Zapatisten ihren eigenen lokalen Raum und begannen, so Zimmering, an einer dauerhaften überregionalen Alternative zu arbeiten. Die zielt auf Veränderung in ganz Mexiko ab. International sei dieser programmatische Wandel kaum wahrgenommen worden, auch wenn er sich aus dem Selbstverständnis der Zapatisten quasi ergebe. So ist einer der zapatistischen Slogans der ersten Stunde „Preguntando caminamos“, zu Deutsch: „Fragend schreiten wir voran“. Der steht für den Aufbau einer anderen Gesellschaft, die sich radikal vom Staat und vom herrschenden System in Mexiko abgrenzt, wie Zimmering darlegt. Dabei sind die Zapatisten schon weit gekommen. Für die Autorin sind deren „Räte der guten Regierung“ ein Vorbild für andere emanzipatorische Bewegungen. KNUT HENKEL

Raina Zimmering: „Zapatismus. Ein neues Paradigma emanzipatorischer Bewegungen“. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010, 300 Seiten, 29,90 Euro