LEUCHTEN DER MENSCHHEIT NINA APIN
: Von wahren und falschen Erinnerungen

Die Odenwaldschule im hessischen Oberhambach (OSO) galt lange als Musterbeispiel gelebter Reformpädagogik, aus dessen Geist freie Persönlichkeiten hervorgingen: Klaus Mann, Beate Uhse, Daniel Cohn-Bendit. Und Tilman Jens, Sohn von Walter Jens. Er hat ein Buch über die Schule geschrieben, die im letzten Jahr zum Synonym für sexuelle Gewalt wurde – mit 130 aufgedeckten Missbrauchsfällen zwischen 1966 und Ende der 80er. Für Jens, begeisterter OSOaner, muss das ein Schock gewesen sein. Der Schulleiter Gerold Becker, diese „Lichtgestalt der Reformpädagogik“, ein manipulativer Kinderschänder? Der krachlederne Sportlehrer Jürgen Kahle, ein Liebhaber sadistischer Demütigungen?

Jens wollte, so bekennt er im Nachwort zu „Freiwild“ (Gütersloher Verlagshaus, 2011), eigentlich ein Buch über den „Missbrauch des Missbrauchs“ schreiben. Darüber, wie viel bei der Aufklärung kaputtgegangen war. Über Entschädigungsforderungen, die die Schule an den Rand des Ruins trieben. Zum Glück hat Jens nach Gesprächen mit rund 100 Zeugen seine Meinung etwas geändert.

Jens besuchte den „übergriffigen“ Sportlehrer Kahle in seinem Allgäuer Häuschen, wo er immer noch von den „kleinen Brüstchen“ der 14-jährigen Carola schwärmt. Und davon, wie ihn „seine Jungs vergewaltigten“. Jens resümiert deprimiert: „Jürgen hat noch immer nichts begriffen.“ Auch mit dem Oberpäderasten Becker geht Jens ins Gericht. Trotzdem will dieses Buch immer auch erklären. Warum die Libertinage an der Schule Übergriffe begünstigte – aber auch befreiend war. Warum es zwar gehäuft Übergriffe gab, aber kein „System Becker“. Immer wieder kommt der Reflex des Altschülers durch, der sich sein Paradies nicht kaputtmachen lassen will. Er bezichtigt Opfer der false memory. Oder der Lüge. Mit der haarsträubenden Begründung, der Schüler sei für den Lehrer „rundum unattraktiv“ gewesen. Dann kommt Jens zu dem Schluss: „Geld ist nicht alles, aber fließen muss es doch. (…) Wenn die Aussöhnung mit den Betroffenen nicht alsbald gelingt, kann die OSO dichtmachen.“ Dass es weitergeht in Oberhambach, scheint seine größte Sorge zu sein.

Nina Apin ist Redakteurin der taz Foto: privat