Die weise Macht des Exodus

THEORIE In „Figuren des Immunen“ entwirft Isabell Lorey ein Modell des politischen Widerstands, das die römischen Plebejer zum Vorbild hat

Die anfangs rechtlosen Plebejer zogen mehrmals aus Rom auf den „heiligen Berg“ aus

VON ANDREA ROEDIG

Das Dilemma westlich kapitalistischer Gesellschaften ist, dass gegen sie kein revolutionäres Kraut wachsen kann. Wo Macht, wie Michel Foucault es formulierte, nicht repressiv, sondern „produktiv“ agiert, wo das System auch Heterogenes fröhlich wie ein Nichts verdaut und die Subjekte als Ego-Unternehmer ihre Unterwerfung gleich selbst organisieren, wird Umsturz zu einer beinahe unmöglichen Sache. Sehr wohl besteht ein Unbehagen am System. Aber es fehlt der Hebel, mit dem sich die herrschende Logik sprengen ließe. Wie also kann in einer permissiven, erlaubenden Gesellschaft radikale Kritik und Widerstand gedacht werden?

Einen Vorschlag macht die Politologin Isabell Lorey mit ihrem Buch „Figuren des Immunen“. Es ist ein groß angelegter systematischer Entwurf, der nichts weniger will, als „Elemente für eine politische Theorie“ des Widerstands zu liefern. Zu diesem Zweck geht Lorey weit zurück in der Geschichte, zu den berühmten Stände- beziehungsweise „Ordnungskämpfen“ zwischen Patriziern und Plebejern im alten Rom des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Im Zuge der Auseinandersetzungen, die sich über 200 Jahre erstreckten, zogen die anfangs rechtlosen Plebejer mehrmals aus Rom auf den „heiligen Berg“ aus. Dort konstituierten sie sich, gesichert durch Eidverfahren, benannten „sakrosankte“ Volkstribune und erzwangen politische Rechte, bevor sie wieder nach Rom zurückkehrten.

„Die Plebejer entbinden sich, ohne tödliche Waffen zu gebrauchen. Ihre überaus wirksame politisch-strategische Waffe besteht darin, sich durch Auszug zu entziehen“, erklärt Lorey. Im Akt des sich verweigernden Exodus sieht sie ein Modell politischen Widerstands, das eine Alternative zu „Aufstand oder Gehorsam“ öffnet. Der Exodus als Modell hat weitere Vorteile, denn die politische Gruppe, die sich im gemeinsamen Auszug herstellt, definiert sich nicht über feste Identitäten, sondern über den kollektiven Akt, sie setzt Verbindlichkeiten, doch diese politische „konstituierende Immunisierung“ gilt nicht der klassischen Herrschaftssicherung. Es ist kein ideales Bild, das Lorey zeichnet, und keines, dem eins zu eins zu folgen wäre. Lorey betont den patriarchalen Charakter des plebejischen Widerstands, und auch dass er nach Beendigung der Aktion seinen Sinn verliert. „Konstituierende und konstituierte Macht des Plebejischen stehen nicht eindeutig und dauerhaft auf der Seite der Emanzipation.“

Mit ihrem Entwurf operiert Lorey nicht im luftleeren Raum. Die römischen Ständekämpfe sind ein alter Topos der politischen Theorie, ein recht dunkler Hinweis auf das Plebejische als „Flucht und Umkehr“ findet sich auch bei Foucault. Lorey bezieht sich außerdem auf Antonio Negris Ausführungen zur Multitude, auf die Communitas/Immunitas-Entwürfe Roberto Espositos, auf Paolo Virnos „Exodus“ und die Idee des Politischen als Konflikt bei Jacques Rancière. Eine markante Absage erteilt Lorey dabei Giorgio Agambens berühmter Deutung des „Homo Sacer“, die sich auf dieselbe römische Quelle bezieht.

Während Agamben den „Vogelfreien“ zu einem generellen politischen Paradigma hochstilisiert und Gesetzgebung immer an gewaltsame Souveränität und den Ausnahmezustand bindet, entwickelt Lorey eine andere Lesart. Sie zeigt, dass sich das plebejische Vorgehen im Gegenteil als eine „konstituierende Gewalt jenseits von Souveränität“ deuten lässt. Darin läge tatsächlich ein utopischer Gehalt.

Das Buch versammelt viel historisches und theoretisches Material, doch leider überfrachtet das bisweilen auch den eigenen Ansatz. So überlagern sich die Diskussion zu Gemeinschaft und Immunisierung mit denen zu Gesetz und Souveränität. Ein anderer Strang ist die Frage nach dem Begriff des Politischen. Wieso diese Fäden alle im Plebejischen und dem Begriff des „Immunen“ zusammenlaufen sollen, ist nicht immer einfach zu begreifen. Hinzu kommt ein gewisser Manierismus in der Ausdeutung der historischen Erzählung und begrifflicher Herleitungen. Lorey arbeitet an einigen Stellen so akribisch mit etymologischen Ableitungen, beim Begriff „munus“ zum Beispiel, dass man im Fortgang der Lektüre eher skeptischer als überzeugter werden möchte. In welchem Verhältnis Etymologie, Historiografie und systematischer politischer Entwurf stehen können und stehen sollten, ist hier nicht wirklich ausgemacht.

Aber das Modell besticht. Dass sich eine politische Kraft im Entziehen konstituiert, um dann wiederzukehren, ist attraktiv. Und natürlich erinnert das Sichentziehen an die List der Vernunft, die das Spielfeld verlässt, wo sie nicht gewinnen kann.

Isabell Lorey: „Figuren des Immunen“. Diaphanes Verlag, Zürich 2011, 343 Seiten, 26,90 Euro