TIM CASPAR BOEHME LEUCHTEN DER MENSCHHEIT
: Wer will schon gern am Südpol frieren?

Im Eis erst kommt der Mensch ganz zu sich selbst. Auf seine elementare Not zurückgeworfen, sich gegen Hunger und Kälte zu behaupten, entwickelt er ein unmittelbareres Verhältnis zu seinen körperlichen Bedürfnissen, zu seinen Mitmenschen und zu seinen eigenen Wünschen: Will ich diese Strapazen wirklich durchstehen? Gebe ich doch auf?

So weit die Fantasie. Die Realität heutiger Polarforschung dürfte nüchterner aussehen, und sie ist auch keinesfalls ein rein männliches Unternehmen. Doch die romantische Faszination für das mehr oder minder ewige Eis, das man zwar nicht bezwingen, aber zumindest durchqueren kann, hält sich ungebrochen. Erst vor wenigen Wochen veröffentlichte der Publizist Christian Jostmann mit „Das Eis und der Tod. Scott, Amundsen und das Drama am Südpol“ (C. H. Beck, 2011) einen dicht erzählten historischen Roman, der den Wettlauf der beiden Polarkontrahenten Robert Falcon Scott und Roald Amundsen nachzeichnet und dabei nahe an den Fakten bleibt.

Ein wenig fragt man sich als Leser, woher eigentlich der Antrieb kommt, sich so einem strapaziösen Unternehmen mit seinen ganzen Entbehrungen auszusetzen. Natürlich soll man den Entdeckergeist nicht unterschätzen, und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es an den Polen noch einiges an Neuland zu erobern: Gut, man will also immer wieder die eigenen Grenzen überwinden – als Warmduscher bleibt einem da bloß die Lektüre der Heldentaten anderer.

Stutzig macht in Jostmanns Buch hingegen ein praktischer Hinweis, der das Bild von den selbstbestimmten Pionieren im Eis ein wenig ins Rutschen bringt. Es sei das britische Militär gewesen, das die Polarfahrt stark ermuntert habe, schließlich musste die Kriegsflotte nach dem Sieg über Napoleon im frühen 19. Jahrhundert für neue Aufgaben genutzt werden. Und zum Erobern bot sich der Südpol allemal an.

Ist der Wille zum Aufbruch gen Süden am Ende nur eine zivile Variante militärischer Marschbefehle mit dem Ziel, symbolisches Terrain zu erobern? Das wäre fast schon eine beruhigende Antwort: Ohne ideologisches Fundament lassen sich so aberwitzige Vorhaben dann wohl doch nicht stemmen.

Der Autor schreibt regelmäßig für das Kulturressort Foto: privat