Eine neue ursprüngliche Akkumulation

MARX Humangeograf David Harvey, bekannt durch seine Vorlesungen zum Marx’schen „Kapital“, versucht eine Relektüre unter den Vorzeichen der Krise

Es ist so gut wie sicher, dass die Krisen öfter und gewaltsamer ausbrechen werden

VON ULI MÜLLER

Geldmünzen prangen auf dem Buchumschlag. Bei genauerem Hinschauen ist ein markanter Schädel mit einem Rauschebart zu erkennen: Karl Marx. Ob es dem größten Kritiker des Kapitalismus wohl gefallen hätte, sein Konterfei in schnödem Mammon nachgebildet zu sehen?

Der Marx-Kopf ziert das neue Buch von David Harvey. Der ist Humangeograf und Sozialwissenschaftler. Seit beinahe vier Jahrzehnten bringt er Studenten in den USA Marx’ „Kapital“ nahe. Seine Lektürekurse haben Kultstatus, obwohl sie ein wenig langweilig sind. Neugierige können sie sich als Video aus dem Internet reinziehen (www.davidharvey.org). Wer das Marx-Studium ernsthafter angehen will, vertiefe sich lieber in Harveys neues Buch. Das ist alles andere als langweilig.

„Es gibt viele Studentinnen und Aktivistinnen, die das dringende Bedürfnis nach einer soliden theoretischen Grundlage haben, um besser zu verstehen, wie alles miteinander zusammenhängt“, schreibt der Autor. Tatsächlich tobt die Finanzkrise seit gut drei Jahren, und weder ein Ende noch echte Lösungen sind greifbar. In solchen Situationen lohnt ein Blick in die Geschichte. Zum Beispiel ins 19. Jahrhundert.

Damals schrieb Marx „Das Kapital“. Er wollte eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Wirtschaft vorlegen. Sein Großversuch blieb unvollendet. Dennoch hatte er maßgeblichen Einfluss auf die Arbeiterbewegung. Bis heute beschäftigt er Anhänger aller politischen Lager. Entsprechend zahlreich sind die Lesehilfen durch das sperrige Werk. Doch Harveys Buch ist ein besonderes.

In vertraulichem Ton plaudert er mit den Lesern und vermeidet über weite Strecken den Duktus der Marx’schen Sprache. Hilfreich sind seine Erläuterungen zu Marx’ Vorgehen. Ohne sie dürfte unbedarften Lesern die Lust am Original schnell vergehen. Vor allem die ersten drei Kapitel muten ohne Kenntnis der Methode wie ein chaotisches gedankliches Sammelsurium an.

Legalisierter Raub

Harvey holt das 144 Jahre alte Buch in die Gegenwart, um das Finanzdesaster aus marxistischer Sicht zu erklären. Aus der Vogelperspektive ähnelt seine Diagnose der Krisen erst einmal der von anderen Experten: „Es ist so gut wie sicher, dass sie öfter und gewaltsamer ausbrechen werden. Im Vergleich dazu werden die Ereignisse von 2008 geradezu banal erscheinen.“ Harvey kommt aber zu einem anderen Schluss: „Da es sich um Spannungen handelt, die der kapitalistischen Dynamik innewohnen, kann dem Kapitalismus nur geraten werden abzutreten.“

Marx selbst deutete die Möglichkeit reiner Finanzkrisen ohne Bezug zur realen Wirtschaft lediglich an. Er führte dazu nichts weiter aus. Dieses Loch versucht Harvey zu füllen. Parallelen findet er in der Geschichte der „ursprünglichen Akkumulation“. In der Zeit der Entstehung des Kapitalismus also, die in England ins 17. und 18. Jahrhundert fiel: Einigen findigen Geschäftsleuten gelang es, große Teile des bislang gemeinschaftlich genutzten Landes mit Zäunen zu umfrieden und – mit Hilfe des Staates – in ihr Eigentum umzuwandeln. Die neue Gesellschaftsordnung ging Marx zufolge aus Willkür-, Raub- und Gewaltakten hervor. Harvey überträgt diesen Mechanismus auf die Gegenwart und spricht von „Akkumulation durch Enteignung“.

Was er damit meint, veranschaulicht er auch an der US-Häuserkrise, die als Auslöser der Misere im Jahr 2008 gilt: „Diese Umverteilung durch den millionenfachen Immobilienverlust auf der einen und die riesigen Gewinne an der Wall Street auf der anderen Seiten stellt einen besonders krassen aktuellen Fall von Plünderung und legalisiertem Raub dar, der typisch für die Akkumulation durch Enteignung ist.“

Tatsächlich verloren Millionen von Menschen ihr Wohneigentum, das ihnen zuvor von Banken und Finanzinvestoren aufgeschwatzt worden war. Als viele ihre Kreditraten nicht mehr zahlen konnten, fielen ihre Häuser an die Banken. Harveys Lesart: Erst schaffen Finanzinvestoren ein Angebot. Später reißen sie sich die entstandenen Werte unter den Nagel. Harvey liefert eine ebenso verständliche wie anspruchsvolle Einführung in die Marx’sche Theorie. Die Beschäftigung mit jenen Aspekten, die in den vergangenen drei Jahrzehnten weitgehend aus dem Blick gerieten, Verteilungs- und Machtfragen also, lohnt sich.

David Harvey: „Marx’ ‚Kapital‘ lesen“. Aus dem Englischen von Christian Frings. VSA Verlag, Hamburg 2011, 416 S., 24,80 Euro