Die ungarische Option

NATIONALISMUS Die autoritäre und völkische Umgestaltung der ungarischen Gesellschaft schreitet voran. „Mit Pfeil, Kreuz und Krone“ liefert die Hintergründe dieser gefährlichen Entwicklung

VON STEPHAN GRIGAT

Die Ungarn belegen bei vergleichenden Länderstudien zur Verbreitung von Rassismus und Antisemitismus regelmäßig Spitzenwerte. 62 Prozent glauben, Roma seien „kriminell veranlagt“ und über zwei Drittel halten Homosexualität für unmoralisch. 46 Prozent machen „die Juden“ für die aktuelle Finanzkrise verantwortlich. Fidesz, die Schwesterpartei der CDU/CSU, betreibt mit ihrer Zweidrittelmehrheit im vorauseilenden Gehorsam gegenüber der noch in Opposition befindlichen, offen antisemitischen und rassistischen Jobbik, die in Umfragen mittlerweile bei 20 Prozent liegt, in einem atemberaubenden Tempo eine autoritär-völkische Umgestaltung der Gesellschaft.

Die Journalisten Andreas Koob und Holger Marcks sowie die deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovsky arbeiten in ihrer Studie „Mit Pfeil, Kreuz und Krone“ zu den aktuellen Veränderungen in Ungarn heraus, dass der Wahlsieg von Fidesz und Jobbik von 2010, bei dem die beiden Rechtsparteien zusammen über 80 Prozent der Parlamentsmandate gewonnen haben, nicht plötzlich über das Land hereingebrochen ist, sondern Ergebnis einer bereits seit Anfang der 1990er-Jahre zu konstatierenden Zunahme völkischen Denkens in der Gesellschaft ist. Sie sprechen von einer „Faschisierung“ in Ungarn.

Mit geschichtspolitisch motivierten Opfermythen und einer atemberaubenden Täter-Opfer-Umkehr hinsichtlich der massenhaften Beteiligung der Bevölkerung am magyarischen Protofaschismus und an der nationalsozialistischen Herrschaft, mit außenpolitischem Revanchismus, Hetze gegen Roma und Antisemitismus, mit Demokratieabbau und volksgemeinschaftlicher Ruhigstellung sozialer Konflikte, eröffne diese zumindest die „Option auf den Faschismus“.

Das Autorentrio betont, dass die „ideologischen Referenzen“ von Fidesz und Jobbik „gravierende Schnittmengen zeigen“. Dennoch wenden sie sich zu Recht gegen eine einfache Gleichsetzung der beiden Parteien und sprechen stattdessen von einem „Wechselspiel“, bei dem die Jobbik die Regierung in vielen Punkten vor sich hertreibt und als Stichwortgeber und „Schrittmacher der völkischen Politik“ unter Viktor Orbán fungiert.

Obskure Rassentheologie

Die Autoren sprechen von einem „Antikapitalismus von rechts“, der Konfrontationen nicht durch Konfliktaustragung nach innen, sondern mittels der Konstruktion einer „Volksgemeinschaft“ gegen äußere Feinde richtet. Während sich die Orbán-Regierung in populistischer Manier als „Anwalt der kleinen Leute“ inszeniert, betreibt sie gleichzeitig eine rigide antigewerkschaftliche Politik. Die aktuelle ungarische Politik ziele „nicht auf eine Stärkung der Interessen von Lohnabhängigen ab“, sondern auf die Stärkung der „nationalen Gemeinschaft“ und die Agitation gegen „fremdes“ Kapital.

Marsovszky, Koob und Marcks zeigen, wie auch in den Auseinandersetzungen Ungarns mit Brüssel offener Antisemitismus und der Hass auf Israel durchschlagen, etwa wenn in einer Fidesz-nahen Zeitung dem „Imperium Europa“ ein „Blutritualmord am Nationalstaat“ attestiert wird oder wenn auf gemeinsamen Demonstrationen von Jobbik und Fidesz die EU als „verjudete Gemeinschaft“ und „zionistisch fremdbestimmt“ attackiert wird.

Die Fidesz-Regierung tritt nicht nur im Innern des Landes ausgesprochen forsch auf, sondern betreibt auch eine aggressive Außenpolitik, insbesondere mittels einer Instrumentalisierung der in den Nachbarländern lebenden Auslandsungarn. Im Rahmen einer obskuren Rassentheologie werden nicht nur die Gemeinsamkeiten der Magyaren mit den „zentralasiatischen Völkern“ beschworen, sondern auch mit dem Iran. Insofern ist es nicht weiter überraschend, dass die Jobbik sich regelmäßig mit dem iranischen Regime solidarisiert und auch in diesem Punkt die Politik der Fidesz unterstützt, die auf einen Ausbau der ökonomischen Beziehungen mit Teheran setzt.

Bisher bleibt allerdings zweifelhaft, ob das eine ernsthafte Alternative zur EU darstellen kann, gegen die Orbán zumindest rhetorisch zu Felde zieht. Nur macht die Erfolglosigkeit vieler Projekte der völkisch-autoritären Kräfte in dem mitteleuropäischen Land die Hetze der ungarischen Rechtsparteien, die in dem Band materialreich dargestellt wird, kein bisschen weniger gefährlich.

Andreas Koob, Holger Marcks, Magdalena Marsovszky: „Mit Pfeil, Kreuz und Krone. Nationalismus und autoritäre Krisenbewältigung in Ungarn“. Unrast Verlag, Münster 2013, 208 Seiten, 14 Euro