Die langen Linien der Klassengeschichte

UMVERTEILUNG Soziale Ungleichheit trotz Wohlstandssteigerung: Der renommierte Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat die Kluft zwischen Arm und Reich untersucht

Die Mittelschicht schrumpft, während am oberen Rand die Gehälter rasant steigen

VON STEFAN REINECKE

Die soziale Ungleichheit in den Industrieländern wächst seit gut dreißig Jahren. Die Gründe sind mannigfach. Mit der Globalisierung ist die Konkurrenz aus Billiglohnländern explodiert, die Gewerkschaften sind auf Rückzug, und die Steuerpolitik begünstigt seit Reagan und Thatcher massiv die Reichen. Hans-Ulrich Wehler, Nestor der deutschen Sozialgeschichte, ist indes sicher, dass die verschärfte soziale Drift hierzulande kein Kollateralschaden der Globalisierung ist, sondern hausgemacht. Dass Managergehälter drastisch gestiegen, während die Normalverdiener in die Röhre schauen, ist Ergebnis geschickter „Machtausübung kleiner Eliten“, schreibt Wehler. Und wundert sich, dass die Öffentlichkeit sich dies bieten lässt.

„Die neue Umverteilung“ ist ein handliches, dünnes Buch über ein zentrales Thema, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Wehler breitet als Erstes sein theoretisches Besteck aus. Auf eine Kurzformel gebracht, lautet die Devise: mit Max Weber, ohne Karl Marx. Die Klasse ist in dieser Sicht der zentrale Begriff, ohne den keine Durchleuchtung der Gesellschaft gelingt, allerdings ist dieser Begriff gänzlich von allen revolutionären und teleologischen Aufladungen gereinigt.

Wehler versucht in einer kompakten 50-seitigen tour d’horizon durch die Soziologiegeschichte klarzumachen, dass alle Wege der Klassenanalyse nach wie vor zu Bourdieu führen. Denn nur dessen Konzept, Klassen nach ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital aufzufächern, vermag die Komplexität moderner Gesellschaften zu erfassen. Will sagen: Um das Maß an Gleichheit oder Ungleichheit zu messen, muss man nicht nur aufs Geld schauen, sondern auch auf Heiratsverhalten, Bildung, Geschlechterverhältnisse etc. In herrischem Ton werden nebenbei alle Theorien abgekanzelt, die individualisierte Lebensstile ins Zentrum rücken. Alles modischer Firlefanz, „glitzernde Wortkaskaden“ (Wehler) ohne empirischen Grund.

Wehlers Befund lautet: Die Unterschiede zwischen den Klassen in Deutschland sind seit 1949 mit „verblüffender Hartnäckigkeit gleichbleibend erhalten geblieben“. Die Wirtschaft wuchs, die Klassenstruktur blieb. Allen ging es besser, die Reichen, Gutausgebildeten, Selbstständigen profitierten etwas mehr vom Wachstum, aber auch das Einkommen der Unterschicht vervielfachte sich über die Jahre. Neuerdings indes franst der Arbeitsmarkt aus. So hat sich die Zahl der Niedriglohnjobs seit 1984 fast verdreifacht. Die Mittelschicht schrumpft, während am oberen Rand die Gehälter rasant steigen. 1985 verdiente ein führender Manager in einem deutschen Konzern das 20-Fache eines normalen Arbeitnehmers, 2011 bekam er 200 Mal so viel.

Dieser Trend wird durch die Steuerpolitik, die diese Fliehkräfte eigentlich bändigen soll, noch beschleunigt. Recht anschaulich zeigt sich diese Unwucht anhand der Erbschaftsteuer. Während ein Drittel aller Arbeitseinkommen an den Staat geht, liegt die Steuerquote bei Erbschaften unter 2 Prozent. Die Vermögen driften auseinander.

„Die neue Umverteilung“ ist interessant, wo die langen Linien der deutschen Klassengeschichte sichtbar werden. Was fehlt, ist eine überzeugende Abwägung, ob eine neue Qualität von Ungleichheit existiert oder ob die Kontinuität der deutschen Klassenverhältnisse schwerer wiegt.

Entsprechend offen bleiben die Therapievorschläge. Müssen wir entschlossen von oben nach unten umverteilen, ehe die sozialen Gegensätze die Gesellschaft aufsprengen? Oder ist, historisch gesehen, alles nicht so schlimm? Wehler hält sich da, ganz bundesrepublikanisch, in der Mitte auf. Er fordert eine entschieden höhere Erbschaftsteuer, bleibt aber aufs Ganze gesehen moderat. Man müsse die „allzu krass ausgeprägten Hierarchien“ abmildern, ohne „der Mobilisierungsdynamik“ der vom Markt getriebenen gesellschaftlichen Differenzierungen allzu enge Zügel anzulegen, so das Resümee. Das klingt, manch entschiedenen Umverteilungsforderungen zum Trotz, nach dem vorsichtigen Reformismus, den die SPD unter Steinbrück vertritt.

Hans-Ulrich Wehler: „Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland“. C. H. Beck, München 2013, 192 Seiten, 14,95 Euro