Das Werk, der Alltag, die Affekte

BRIEFE Der Austausch zwischen Adorno und Scholem dokumentiert ein Stück deutsch-jüdische Geistesgeschichte

VON MICHA BRUMLIK

Die private Korrespondenz zumal „großer Geister“ (Jürgen Habermas) weist sie oft als „Menschen wie du und ich“ aus, eröffnet mithin einen Blick auf sie, den man mit Hegel als „Kammerdienerperspektive“ bezeichnen kann, einen Blick, der – so Hegel in der „Phänomenologie“ – als „urteilendes Bewußtsein selbst niederträchtig“ ist. Darüber hinaus geben solche Korrespondenzen, wo es um den Gehalt von Theorien geht, Auskünfte, die den fertigen, gedruckten Werken nur schwer zu entnehmen sind. Damit enthalten derartige Briefe oft Kommentare, die aus der Hand der Autoren bestätigen, was Philologen erst mühsam erschließen müssen.

Und so ist es eine eigentümliche Verschränkung von Niedertracht und Bekenntnis zu tiefsten geistigen Intentionen, die den Briefwechsel zwischen dem Philosophen Theodor W. Adorno und dem Kabbalaforscher Gershom Scholem auszeichnet. Derlei Lebenszeugnisse, neuerdings spricht man von „Egodokumenten“, konfrontieren das Lesepublikum dann mit der Frage, ob und in welchem Ausmaß Theorien Ausdruck auch materieller und emotionaler Lebensumstände sind – Philosophen reden hier vom Verhältnis von „Genesis und Geltung“. Doch geht es nicht um Reduktionismus: im vorliegenden Fall eher darum, mit welchen Leidenschaften theoretische Interessen auch im intellektuellen Alltag vertreten werden.

Es waren zwei Motive, die Adorno und Scholem verbanden: die ganz unterschiedlichen Beziehungen zu Walter Benjamin, dem Adornos Denken Wesentliches verdankt und dem Scholem ein Freund war; sodann die Trauer um Benjamins auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verlorenes Leben, schließlich die Sorge um sein nachgelassenes Werk. Mindestens ebenso sehr aber lag beiden an dem, worum es Benjamin in der Sache gegangen war: einer möglichen Beziehung von Theologie und historischem Materialismus.

So schrieb Adorno Ende 1957 nach Jerusalem, dass es ihm bei einem Text zu Proust „um nichts Geringeres“ gegangen sei „als um die Aufklärung als Rettung der Theologie.“ Andererseits geht es beiden immer wieder um gemeinsame Bekannte, nicht zuletzt um Ernst Bloch, dessen Werk – weniger seine Person – beide mit ambivalenten Gefühlen schätzten und dessen Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik sie begrüßten.

Adorno aber verstand die Intimität des Briefwechsels als geschützten Raum, um seinen ungehemmten Abneigungen Ausdruck zu verleihen. Hannah Arendt etwa, ebenfalls eine Freundin Benjamins, wird zur Zielscheibe heftigster Invektiven. In einem Brief von 1963, in dem sich Adorno zustimmend zu Scholems Kritik an Arendts Buch über „Eichmann in Jerusalem“ äußert, schreibt er, dass Scholems Kritik „nur die alte Antipathie bestätigt, welche ich gegen diese Dame seit unserer Jugend hegte; gegen den maßlosen Ehrgeiz, das intellektuelle Neophytentum. Nur in einem hat sie recht: Sie ist nie eine Linksintellektuelle gewesen, freilich kommt sie auch nicht von der deutschen Philosophie her. Sie ist eine Schülerin von Jaspers.“ Arendt wird hier – durchaus mit einem gewissen Klassendünkel – als intellektuelle „Aufsteigerin“ bezeichnet und als Nichtphilosophin ausgegrenzt.

Noch stärker trifft Adornos Bannstrahl die auch heute noch zu wenig rezipierte deutsch-jüdische Philosophin und Dichterin Margarete Susman (1872–1966) , die als Philosophin gleichrangig neben Martin Buber und Franz Rosenzweig steht und der Elisa Klapheck kürzlich eine ausführliche Monografie gewidmet hat. Adorno aber hielt sie für „ein Weib, dessen moralischer Speck sozusagen am messianischen Licht geschmolzen und in die Erscheinung getreten ist. Ich weiß mir kaum etwas Schlimmeres als diese Figuren, welche Elemente der Wahrheit der Lüge zugeführt haben.“

Es war Susman, die schon 1946 in der Schweiz eine erste geschichtsphilosophische Deutung der Schoah aus jüdischer Perspektive vorgelegt hatte: „Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes“.

Das Verhältnis von Theologie und radikaler Veränderung der Verhältnisse, von Walter Benjamin in einer Lehre des Messianischen postuliert, war jenes Hauptanliegen Adornos, das er in seiner 1966 publizierten „Negativen Dialektik“ zu entfalten suchte. Adorno, der Scholem das Buch nach Jerusalem geschickt hatte, erhielt von ihm im März 1968 einen außerordentlich langen Brief, der als philosophische Mitte ihrer Beziehung gelten kann. Man kann diesen vom März 1967 datierten Brief zugleich als profunde Kritik an Adornos Programm einer materialistisch vorgehenden Rettung theologischer Gehalte lesen.

So stellt Scholem zwar bewundernd fest, „noch nie eine keuschere und in sich verhaltenere Verteidigung der Metaphysik“ gelesen zu haben, um aber im Folgenden zu behaupten, daß Adornos kritische Theorie der Totalität gesellschaftlichen Seins und ihrer Vermittlung nicht durchführbar sei. Die Behauptung der gesellschaftlichen Vermitteltheit allen Denkens sei eine Hypothese, die für Adorno vor allem die Funktion eines Deus ex Machina habe.

Scholem begründet dies mit einer Kritik von Marx’ Ausführungen über den Fetischcharakter der Ware im „Kapital“ – stehe doch diesem Text „keinerlei Stringenz“ zur Seite, mehr noch: „Und so geht es auch mir, wenn ich bei Ihnen jene ach wie unbewiesenen Behauptungen über den Zusammenhang des Tauschvorgangs mit den Abstraktionsprozessen des Bewußtseins sozusagen gläubig wiederholt finde […]“ Adorno bestätigt in seinem Antwortschreiben zwar, dass die Absicht der „Negativen Dialektik“ vor allem die „einer Rettung der Metaphysik“ sei, um dennoch darauf zu beharren, dass die von Scholem kritisierte Theorie des Klassenkampfes, wenn man sie vom „Komplex kommunistischer Herrschaft“ löse, für die „Konstruktion der Geschichte, und damit der Philosophie“ unabdingbar sei.

In seinem letzten, drei Monate vor seinem Tod, im Mai 1969, geschriebenen Brief an Scholem geht es schließlich um einen weiteren Mitstreiter, um Herbert Marcuse und die neuerdings gespannten Beziehungen zu ihm, wolle dieser doch bei einem Besuch in Frankfurt mit Studenten diskutieren, was – so Adorno ohne übermäßiges Bedauern – ein Arrangement mit dem Institut für Sozialforschung unmöglich mache. Er versäumt nicht mitzuteilen, dass Marcuses Frau gedroht habe, solle Marcuse nicht mit den Studenten diskutieren, „öffentlich mit den Studenten gegen ihn zu demonstrieren. Seltsam“, so Adornos letzte Bemerkung, „sind die Wege der Sterblichen.“

Theodor W. Adorno, Gershom Scholem: Briefwechsel. „Der liebe Gott wohnt im Detail. 1939 bis 1969“. Hrsg. von Asaf Angermann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 560 Seiten, 39,95 Euro