Anarchie im Baltikum

HIPPEN EMPFIEHLT Mit „Poll“ hat Chris Kraus ein opulentes Historiendrama über die Jugendjahre der expressionistischen Dichterin Oda Schaeffer an der Ostsee inszeniert

So leidenschaftlich und bildgewaltig wie in diesem historischen Epos wird im deutschen Kino selten erzählt

VON WILFRIED HIPPEN

Das Baltikum von 1914 wirkt so fern und vergangen, dass man sich fragt, warum ein junger deutscher Filmemacher heute dort seine Geschichte ansiedelt. Chris Kraus, der vor vier Jahren mit „Vier Minuten“ einen der interessantesten deutschen Film der letzten Zeit präsentierte, ist ein Großneffe der Dichtern Oda Schaeffer. Diese galt als das schwarze Schaf seiner konservativen, teilweise sogar nationalsozialistisch eingestellten Familie, denn sie war eine eher links denkende, freie Seele.

Seit Kraus in den frühen 90er Jahren in Estland den einstigen Gutshof „Poll“ seiner deutsch-baltischen Familie besuchte und diesen auch in den Lebenserinnerungen seiner Großtante beschrieben fand, versuchte er, davon zu erzählen. Und nach dem auch finanziellen Erfolg von „Vier Minuten“ hat er nun die Möglichkeit, dies in einem epischen Film zu tun.

Darin erzählt er von der vierzehnjährigen Oda von Siedering, die nach dem Tod ihrer Mutter in Berlin an die estische Ostseeküste zurückkehrt, wo ihr Vater in einem seltsamen, wie verwunschen erscheinendes Herrenhaus direkt am Strand lebt. Als Arzt und Hirnforscher wirkt er ein wenig wie Dr. Frankenstein, wenn er sich seinen anatomischen Studien widmet, für die er regelmäßig menschliche Gehirne benötigt. Diese werden ihm von den zaristischen Truppen geliefert, die brutal gegen estnische Anarchisten vorgehen, und zu jener Zeit noch mit der deutschbaltischen Elite alliiert sind.

Doch kurz vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges sind die politischen Verhältnisse extrem unsicher, und eine Endzeitstimmung untergräbt die sommerliche Idylle. Die rebellische und hochbegabte Oda entdeckt einen gerade noch lebendigen estnischen Revolutionär, der sich auf der Flucht vor der Soldateska in einem Schuppen versteckt. Sie hilft ihm, pflegt seine Wunden und verliebt sich in ihn. Auch dadurch werden die Konflikte zwischen den verschiedenen auf dem Gut lebenden Gruppen auf die Spitze getrieben, so dass es zu hochdramatischen und tragischen Verwicklungen kommt. So leidenschaftlich und bildgewaltig wie hier wird im deutschen Kino selten erzählt. Der historische Film wirkt auf der einen Seite sehr authentisch. Die Schauspieler haben sogar gelernt, im inzwischen fast vergessenen Dialekt der Deutschbalten zu sprechen. Aber dann ist da dieses Herrenhaus, das wie aus einer surrealen Traumlandschaft an die Ostseeküste verpflanzt zu sein scheint.

Es ist ein unmögliches Haus, schon weil es von der ersten kleinen Sturmflut ins Meer gespült wäre. Eine hochherrschaftliche Villa, auf Stelzen in den Sand gesetzt - halb aus Stein, halb aus Holz, zugig, unmöglich zu Heizen: die größenwahnsinnige Flause eines dekadenten Herrenmenschen - und übrigens auch ein extrem teurer Filmbau, dessen Finanzierung und Errichtung oft drohte, die ganze Produktion scheitern zu lassen.

So droht die Ausstattung manchmal den Schauspielern die Show zu stehen, und Edgar Selge wird in der Rolle von Odas Vater Ebbo tatsächlich oft von den Requisiten, zu denen auch die vielen Gehirnpräparate in seinem Labor zählen, in den Hintergrund gedrängt. Aber die Entdeckung des Films ist die zur Drehzeit gerade vierzehnjährige Paula Beer, die Oda so wahrhaftig, leidenschaftlich und komplex verkörpert, dass dieses ganze fremdartige Welt durch ihre Präsenz geerdet wird.

Chris Kraus hat offensichtlich ein Talent dafür, sehr starke Rollen für sehr junge Frauen zu schreiben und dafür dann genau die richtige Darstellerin zu finden. Das Gleiche gelang ihm schon mit Hannah Herzsprung in „Vier Minuten“.