Lebenslang Lernen

THEATER Das Stadttheater Bremerhaven feiert mit „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad Premiere: ein unter die Haut gehender Abend von beklemmender Aktualität

Fünf Jahre schwieg Nawal. Und dann hat sie doch noch etwas gesagt: „Jetzt, da wir zusammen sind, geht es besser.“ Kein gewöhnlicher Satz, wie der Notar Hermile Lebel betont

VON ANDREAS SCHNELL

„Lerne lesen, sprechen, schreiben, rechnen, lerne denken.“ Das gibt Nazira ihrer Enkelin mit auf den Weg. Es sei das einzige Mittel, dem Elend zu entkommen, das nicht nur ein materielles ist, sondern auch die geistige Not des Dorflebens. Da ist die Enkelin, Nawal, gerade 15 Jahre alt – und schwanger. Von einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet ist, den sie aber über alles liebt. „Verbrennungen“ von Wajdi Mouawad erzählt die Geschichte von Nawal, die ihrer Kinder, ist zugleich raffiniert konstruierter Krimi und packender Thriller, eine Tragödie ebenso wie ein leidenschaftliches Plädoyer für ein Ende von Hass und Gewalt.

Das Stück, das vor zwei Jahren von Denis Villeneuve verfilmt wurde und für einen Oscar nominiert war, beginnt mit einer Szene bei dem Notar Hermile Lebel, der Nawals Erbe verwaltet. Das besteht vor allem aus zwei Briefen, die die Kinder Jeanne und Simon ihrem Vater und ihrem Bruder übermitteln sollen. Ersteren hielten sie für tot, von zweiterem hatten sie nichts gewusst.

Die Tochter, eine Mathematikdozentin, der Sohn, ein ambitionierter, aber erfolgloser Boxer, sind schockiert und verweigern sich dem letzten Willen der Mutter. Vor allem Simon ist voller Hass. Nawal hatte die letzten Jahre ihres Lebens geschwiegen – ihr Pfleger hat das dokumentiert, auf Tonband. Und dann hatte sie, nach fünf Jahren, doch noch etwas gesagt: „Jetzt, da wir zusammen sind, geht es besser.“ Kein gewöhnlicher Satz, wie der Notar betont. Und wie die Aufforderung zum Lesenlernen, Schreibenlernen, Denkenlernen, ist es ein Satz, der uns in den über zwei Stunden, die diese Inszenierung währt, immer wieder begegnen wird.

Jeanne macht sich als erste auf, den letzten Wunsch der Mutter zu erfüllen. Und kommt nach und nach ihrer erschütternden Biographie auf die Spur. Simon folgt ihr nach einer Weile, begleitet von Hermile Lebel, der ihm mit geradezu stoischer Gleichmut immer wieder Mut macht und einen detektivischen Spürsinn an den Tag legt.

Mouawad erzählt das mit vielen Zeitsprüngen, die uns immer wieder in die Lebenswelt von Nawal hineinziehen, wobei Tobias Rott (Regie) und Eva Humburg (Ausstattung) die zeitlichen Ebenen räumlich raffiniert abbilden und visuell erfassbar machen, indem sie unterschiedliche Bühnenelemente auf verschiedene Höhen fahren lassen, auf und unter denen Bürgerkrieg und Gegenwart gegeneinander geschnitten werden.

Und schon von vornherein sorgt Rott für einen Perspektivwechsel: Das Publikum blickt nämlich von der Bühnenrückseite aufs Geschehen und in den Zuschauerraum des Theaters hinein. Was immer wieder daran erinnert, dass man in einem Theater sitzt, zugleich aber auch mit dem Rückwärtsgang der Geschichte korrespondiert, an deren Anfänge wir mit den jungen Menschen reisen, deren Leben am Ende ein anderes sein wird.

In dieser Szenerie zeigt das Ensemble des Bremerhavener Stadttheaters, was es kann.

Vor allem Kika Schmitz ist eine furiose Nawal, die sich vom verzweifelten Mädchen zur kühlen Rächerin entwickelt, Mira Tscherne als ihre Tochter Jeanne und Sebastian Zumpe als deren Zwillingsbruder Simon vermitteln die Zerrissenheit ihrer Figuren, Andreas Möckel gibt der Figur des Notars eine Leichtigkeit, die dem Abend wenigstens etwas von seiner Schwere nimmt. Meret Mundwiler, die wie Möckel und die übrigen Schauspieler in mehreren Rollen zu sehen ist, berührt vor allem als Nawals zeitweilige Weggefährtin Sawda. Und Martin Bringmann zeigt die Schlüsselfigur Nihad eindrucksvoll als gnadenlose Tötungsmaschine. Isabel Zeumer setzt vor allem als Großmutter Nazira Akzente, Walter Schmuck bewältigt seine diversen Rollen angemessen.

Zwar setzt Rott gelegentlich auf ein Quäntchen mehr Pathos als der Abend nötig hätte. Aber er nimmt Mouawad ernst, der sagt, „Verbrennungen“ sei weder einfach ein Stück über den Krieg noch kreise es um die Notwendigkeit, „seine Wurzeln zu kennen“. Weitgehend ohne Kürzungen bringt er den ausladend mäandernden Text auf die Bühne – und schafft es, über den ganzen Abend die Spannung zu halten.

Falls Sie sie noch nicht kennen sollten, sei die Auflösung hier nicht verraten. Sie erwischt einen womöglich nicht kalt, schon bald ahnen wir vom Ausmaß der Tragödie. Aber sie ist so unfassbar, wie sie sich wahrscheinlich so oder anders durchaus immer wieder zutragen könnte, in den Kriegszonen dieser Welt.

Und diese Welt ist nach dem Ende des Kalten Kriegs bekanntlich alles andere als friedlicher geworden. In Zeiten interkontinentaler Fluchtbewegungen kommen diese Geschichten auch nach Kanada, wie in den „Verbrennungen“, die auf einer realen Geschichte basieren. Oder eben nach Europa. Bilder, Briefe und andere Schriftstücke aus dem Bremerhavener Stadtarchiv, mit denen die Seitenwände des Bühnenraums behängt sind, erinnern uns daran.

Hierin liegt nicht zuletzt die Kraft dieses Dramas, das in seiner komplexen Erzählstruktur ganz auf der Höhe der Zeit ist.

■ weitere Vorstellungen: Samstag, 19.30 Uhr, Freitag, 2. 3., 19.30 Uhr, Montag, 12. 3., 19.30 Uhr, Stadttheater Bremerhaven