Bilanz & Reformbedarf des neuen Wahlrechts: "Starke Disproportionalität"

Der Verfassungsausschuss hat sich gestern mit einer Studie über das neue Wahlrecht beschäftigt. Herausgeber Lothar Probst bemängelt die Intransparenz des neuen Systems

Erstmal unübersichtlich: Wahlhelfer bei der Auszählung der Stimmen der letzten Bürgerschaftswahl. Bild: dpa

taz: Herr Probst, was hat sich durch das neue Wahlrecht denn verbessert?

Lothar Probst: Verbessert hat sich die Möglichkeit für die Wähler, ihre Stimme nicht nur für eine starre Liste abzugeben, sondern für Personen. Unsere Nachwahlbefragung hat gezeigt, dass die Bürger zunächst einmal sehr zufrieden damit sind, nun auch Personen wählen zu dürfen. Der Schönheitsfehler ist, dass die Wähler nicht wirklich überblicken können, was sie mit ihrer Stimme bewirken oder auch nicht bewirken.

Bei der Bürgerschaftswahl hat Jens Böhrnsen (SPD) die höchste Anzahl von Personenstimmen erhalten, obwohl er mit Listenplatz 1 ohnehin ein sicheres Mandat innehatte. Was ist denn mit den über 140.000 Stimmen passiert, die für ihn abgegeben wurden?

ist seit 2007 Professor am Institut für Politikwissenschaft der Uni Bremen

85 Prozent aller abgegebenen Personenstimmen kamen nicht denjenigen zugute, für die sie bestimmt waren. Die Stimmen für Herrn Böhrnsen haben für ein prima Ergebnis bei der SPD gesorgt, hatten aber auf seine Wahl null Einfluss.

Manche Kandidaten mit wenigen Personenstimmen haben ein Mandat erhalten und andere keins, obwohl sie mehr Stimmen bekommen haben – wie kann das sein?

Wenn, wie bei der SPD, 50 Prozent der Stimmen als Personenstimmen und 50 Prozent als Listenstimmen abgegeben worden sind, dann werden die Mandate 50 zu 50 aufgeteilt. Bei der SPD gab es einen hohen Anteil an Personenmandaten. Bei anderen Parteien wurden weniger Personenstimmen abgegeben, und da hat sich die Anzahl der Listenmandate erhöht. Dort bekamen Kandidaten dann kein Mandat, obwohl sie mehr Personenstimmen erhalten haben als zum Beispiel ein Kandidat der SPD.

Das Bundesverfassungsgericht fordert, dass bei einer Wahl ersichtlich sein muss, „wie sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann“. Wie geht das mit der Unübersichtlichkeit dieser „Fremdverwertungen“ von WählerInnenstimmen zusammen?

Wahlsysteme sollen durchschaubar sein, und diese Transparenzforderung ist hier nicht in ausreichendem Maße gegeben. Das kollidiert durchaus mit den Vorstellungen des Bundesverfassungsgerichts. Man muss aber auch sagen: Kein Wahlsystem stellt hundertprozentig sicher, dass der Wähler weiß, was er mit seiner Stimme bewirkt. Wenn ich eine starre Parteiliste wähle, weiß ich auch nicht, ob der Kandidat auf Platz 27 das Mandat bekommt oder ob ab Platz 25 Schluss ist. Über dem Wahlvorgang liegt also immer ein gewisser Schleier der Ungewissheit. Aber beim neuen Wahlrecht haben viele Menschen gedacht, dass sie mit ihrer Personenstimme wirklich etwas bewegen können. Schaut man sich aber das Wahlergebnis an, stellt man fest, dass der letzte Personenmandatsinhaber der SPD mit nur 0,25 Prozent aller abgegeben Personenstimmen ein Mandat bekommen hat. Da ist eine sehr starke Disproportionalität gegeben, die dem Anspruch, eine Personalisierung zu bewirken, nicht gerecht wird. Und: Das Transparenzgebot wird verletzt, denn das ist für den Wähler nicht mehr durchschaubar.

Wie ließe sich das Wahlrecht korrigieren?

Die radikalste Methode wäre: Man vergibt die Mandate nur noch nach Personenstimmen. Das wäre ein transparentes Verfahren. Das Problem wäre allerdings, dass Parteien, die ja personenunabhängig auch für Programme stehen, dabei im Grunde überflüssig würden. Eine weitere Möglichkeit wäre die niedersächsische Variante, in der erst die Personen- und dann die Listenmandate vergeben werden. Dann gäbe es allerdings weniger Personenmandate, das heißt: Die Wirkung der Personalisierung wäre nicht mehr so groß. Oder aber man setzt ein Quorum fest, indem man sagt: Ein Kandidat muss eine Mindestanzahl Stimmen erhalten, um ein Personenmandat zu erhalten. Das wäre transparenter für die Wähler, und das wäre auch ein Ansporn für die Kandidaten.

Und was wäre mit der Möglichkeit, zurückzukehren zum alten Wahlsystem?

Nein, das wäre nicht gut, denn damit würde man ein Volksbegehren quasi rückgängig machen. Außerdem halte ich eine Personalisierung für sinnvoll, das sollte man unbedingt beibehalten. Aber das Wahlrecht sollte so verbessert werden, dass es transparent wird für die Wähler und dass sie wissen, was sie mit ihrer Stimme bewirken.

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