Wie können wir so leben?

AGITPROP Sprengt der moderne Kapitalismus die theatrale Form? Michael Rettig wendet in der Schwankhalle Goethes „Faust“ auf die moderne Krise an

Der moderne Mann zu Goethes Zeit machte sich die Welt per Mehrwertschöpfung untertan

von Andreas Schnell

Faust und Kapital – hätte da jemand mal eine Verbindung, bitteschön? Einfach Michael Rettig fragen. Beziehungsweise sein neues Stück schauen: „Faust 2, Kapital und Schulden“. Wobei: Ein bisschen grübeln muss man da schon auch noch.

Klar ist eines: Hier herrscht Zorn. Auf die Gesellschaft, in der wir leben. Die beherrscht wird vom Kapital, so die These. Es, das Kapital, steht hier auf der Bühne, in Gestalt von Mateng Pollkläsener, und gibt sich kaum Mühe, seine hässliche Fratze zu verbergen. Die Zigarre im Mund – „ein ziemlich billiger Regie-Trick, finden Sie nicht?“ – erklärt es uns die Welt aus seiner Sicht. Binnennachfrage? Sozialromantischer Quatsch!

Aber was hat das mit Goethe zu tun? Eine oberflächliche Internetsuche führt uns auf eine interessante Spur: In der FAZ vom 30.6.2009 untersuchten Josef Ackermann, damals noch Chef der Deutschen Bank, und sein Doktorvater Hans Christoph Binswanger den „Faust 2“ auf seinen ökonomischen Gehalt, Goethe war schließlich lange Zeit Wirtschafts- und Finanzminister in Weimar gewesen und ließ seinen Faust proklamieren: „Herrschaft gewinn ich, Eigentum.“ Der moderne Mann jener Jahre war schließlich der unternehmende Bürger, der sich die Welt mit den Mitteln der Mehrwertschöpfung untertan machte.

Die Resultate sind heute wie einst zu besichtigen: Hunger, Armut, Krieg, „sinkende Löhne, wachsende Vermögen“, wie es Pollkäsener als Kapital formuliert.

Dabei wird er immer wieder von dem kleinen Orchester unterbrochen, in dem Rettig am Klavier, Kai Kowalewski am Flügelhorn, Michael Klagge an der elektrischen Gitarre und Christoph Ogiermann an der Violine ihre Motive alter Arbeiterlieder aufgreifende Musik regelmäßig gegen grummelnden Lärm elektronischer Herkunft behaupten müssen. Was das Kapital überhaupt nicht interessiert – Kunst. Es sitzt lieber vor uns und qualmt vor sich hin und doziert und wütet und höhnt. „Wir zahlen nicht für eure Krise!“, dreht Pollkläsener den eher aus linken Kreisen bekannten Slogan um. Denn die Krise trifft schließlich weniger die Banker, das Kapital an sich und als gesellschaftliches Verhältnis, sondern die Bürger, die per Steuern für die Kosten der Krise bezahlen, so die zynische Logik.

Aber zum Faust gehört ja immer auch ein Gretchen, hier verkörpert von Martina Flügge, die uns die andere Seite der Geschichte erzählt. „Heinrich, mir graut vor dir!“, spricht sie. Und erzählt von den Millionen die im Kongo verhungern, während die Welt um einen Michael Jackson weint. „Wie können wir so leben?“

Was ohnehin schon kein Theater im klassischen Sinne ist, wird im letzten Teil des Abends zu flammendem Agit-Prop: Flügge, hier wirklich kaum noch als naives Gretchen zu erkennen, appelliert per Megaphon an die Politik, aber auch an uns, erinnert an Roosevelts New Deal, einen Spitzensteuersatz von 78 Prozent, an eine keynesianische Politik, die die USA seinerzeit zu einem Land machten, in dem zumindest bescheidener Wohlstand für alle möglich war, während in Deutschland ein starker Mann mit dem Wohl der Nation betraut wurde. Szenenapplaus. Am Ende noch einmal ein bisschen Faust: Die Sache mit dem „ewig Weiblichen, das uns hinanzieht“. Der gierige Raubtier-Kapitalismus also eine Männersache? Es stehe vielmehr für „die Kräfte des Bewahrens, Hegens, Pflegens, das Schöpferische – alles, was sich gegen den finanzgetriebenen Nihilismus und sein ‚auf Vernichtung läuft‘s hinaus‘ richtet“, wie Rettig erklärt.

Um das theoretisch weiter zu ergründen, ist übrigens zur Vorstellung am Samstag der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel eingeladen, der im Anschluss zur Diskussion zur Verfügung steht.

■ Freitag & Samstag, 20 Uhr, Schwankhalle