Reformation und Hybris

ÖKUMENE Was die Konfessionen wirklich trennt. Und welche Gründe die katholische Kirche hat, nicht alle Reformen zuzulassen

■ Rudi Thiessen, 59, lehrt Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin und Sozialwissenschaft an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft. Von ihm erschienen u. a. die Bücher „Stadt und Meer“, „It’s only rock ’n’ roll, but I like it“ und „Urbane Sprachen – Proust, Poe, Punks, Baudelaire und der Park“ (alle erschienen bei Vorwerk 8).

VON RUDI THIESSEN

Ökumene gründet viel weniger in der vermeintlichen Suche nach Gemeinsamkeit als in verborgener und offener Konkurrenz. Dies sich endlich einzugestehen, wie es der Münchener Erzbischof Reinhard Marx nahe legt, wäre vermutlich ein Schritt zu wirklicher Ökumene.

Denn in Deutschland verbuchen die Protestanten, die von ihnen in Gang gesetzte Reformation unter Fortschrittsgeschichte, wodurch die Katholiken nicht nur eindeutig als rückständig oder reaktionär bestimmt werden, sondern ihrerseits auf das Primat des christlichen Bekenntnisses und der Kirchenbildung pochen. Paradoxerweise finden sich dann die Protestanten in der Position, ihre Legitimität dadurch behaupten zu müssen, dass sie von der katholischen Seite, als Kirche in deren Sinne; anerkannt werden. Deshalb erregten sie sich so sehr, als Papst Johannes Paul II. (und dann dessen Nachfolger) ihren Kirchenstatus anzweifelte. Dabei war doch genau dies der Punkt, aus dem heraus Luther das Schisma riskierte: Er wollte nicht mehr Teil einer Kirche im Sinne der römisch-katholischen sein.

Recht oder Unrecht der Reformation bestimmt sich im Übrigen wie bei jeder anderen Reform. Da die nichtintendierten Folgen einer Reform die intendierten immer bei weitem übersteigen, muss am Ende Bilanz gezogen werden: Haben die erwünschten Ziele der Reform die nicht erwünschten dermaßen überwogen, dass man am Ende zufrieden sein kann? Also: War die Reformation, die Millionen Tote der konfessionellen Bürgerkriege wert, kompensierte die große Gabe der Bibelübersetzung den Aufstieg des Hexenwahns von einem Aberglauben, der bekämpft werden musste (katholisch) zu einer Heilslehre, die Gemeinde schuf (protestantisch)?

Oder, um dieselbe Frage an einem harmloseren Exempel zu diskutieren: Mit der Reformation gingen der Bildersturm auf die Kathedralen einher. Man verbrannte den Bilderschmuck, schlug die mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Fresken ab und gewann einen leeren, kahlen, ja reinen, vom Bilderdienst unbefleckten Raum. Theologisch war dies gedeckt durch die Erinnerung an das biblische Bilderverbot und durch die Tilgung der Heiligenverehrung, für die es keine biblische Grundlage gab. Aber der leere Raum wurde erobert, zuerst durch die preußische Armee, dann durch die deutsche Wehrmacht. An die Stelle der Heiligen, ihrer Bilder und ihrer Verehrung waren die Symbole und Standarten der Heeresverbände getreten, für deren Sieg man betete.

Nun, gegenwärtig speist sich das Gefühl der protestantischen Fortschrittlichkeit, Bildersturm hin oder her, vor allem aus dem Protestantismus der philosophischen Aufklärung. Zweifellos war Kant Aufklärer und Protestant, und was immer man über Hegel denken mag: er war Protestant. Seine Stubenkameraden im Tübinger Stift – Hölderlin und Schelling – ebenso. Selbst Nietzsche, der erbarmungslose Kritiker der „Pfaffenmoral“, kommt aus dem protestantischen Milieu. Erst mit Martin Heidegger schaffte ein Katholik die Aufnahme in den erlauchten Kreis der deutschen Philosophen – und der bekannte sich zum Nationalsozialismus. Doch auch in diesem Feld haben die Protestanten allen Grund zum Grübeln: Der Erzprotestant Fichte schrieb die „Reden an die Deutsche Nation“, die bis heute zum Gruseligsten gehören, was der deutsche Geist und seine Hybris in durch und durch reformatorischer Tradition zustande gebracht hat.

Nun ist es natürlich nicht so, dass die Reformierten im Konkurrenzkampf, wer sich in der Neuzeit am stärksten blamiert habe, aussichtslos vorne lägen. Der Katholizismus hat sich durchaus und fortwährend bemüht. Auch wenn die Mär, der Nationalsozialismus beruhte vor allem auf einer katholischen Basis und Moral, längst erledigt ist, fand er seine frühe Dominanz vor allem auf protestantischen Gebiet.

Obgleich der Führer aus katholischem Milieu kam, ist doch unbestritten, dass „Klerikalfaschismus“ keine linke Ideologie war, sondern ein europäisches Faktum. Die Spanier wissen, wovon die Rede ist, denn immerhin hat Franco den Niedergang des europäischen Faschismus um dreißig Jahre überlebt. Auch in Italien, dem Arkadien aller gebildeten Deutschen, auch den Linken unter ihnen, ging der Faschismus nur mühsam zu Grunde. In der „Republica die Salo“ konnte Mussolini nur mit Unterstützung der Geistlichkeit und des Papstes versuchen, seinen Untergang noch ein wenig hinauszuziehen. Die kaugummikauenden GIs machten dem ein Ende und Pier Paolo Pasolini einen sehr schönen, wenn auch schwer erträglichen Film darüber. Aber sei’s drum: Die Republik von Salo ist nicht verschwunden und lebt in der faschistischen Pius-Bruderschaft fort.

Es gab und gibt gute Gründe, den Beichtvater vom Heiratsmarkt auszuschließen, sonst wäre nämlich eine halbwegs unbefangene Beichte schlechthin nicht mehr vorstellbar

Also alle Aufarbeitungen und „Bewältigungen“ haben nicht bewirkt, dass Gesinnungen von unbedingter Unanständigkeit fortleben. Aber zurück zu den Zeiten und Problemen, zu den Schwierigkeiten der Reformation. Die Protestanten entfernen die Leiber und das Leben aus den Kirchen, indem sie Bilder verbrannten und Fresken abschlugen. Die Katholiken antworteten mit der Gegenreformation. Das war der Jesuiten-Orden und Ignatius von Loyola, das war Phillip der II., der seine Armada mir Inquisitoren ausstattete, damit auch auf den Weltmeeren der rechte Glaube herrsche, und das waren Bernini und Peter Paul Rubens, die den Barock erschufen und eine neue Leiblichkeit und Hautlichkeit in die Architektur und Malerei brachten. Nie zuvor waren Sinnlichkeit und Sexualität so direkt und aggressiv in der abendländischen Kunst wie im Zeitalter der Gegenreformation. Ganz so, als hätte der Papst die Tiefenimpulse der Reformation gespürt und überboten.

Heute stehen Leiblichkeit und katholische Sexualmoral in Frage. Und dies völlig zu Recht. Aber warum? Schließlich hatten sie doch in der Kunst der Gegenreformation so eine glänzende Ausgangsposition eingenommen, den Protestanten meilenweit überlegen. Und das blieben sie auch, in der Kunst jedenfalls. Der letzte deutsche Maler von Weltrang, Albrecht Dürer, wurde zwar später, aufgrund seiner fränkischen Herkunft, protestantisch bemüht, doch seine wenigen großen Gemälde schuf er als Katholik. Als es Jahrhunderte später wieder große deutsche Malerei gab, waren die Künstler vor allem jüdischer Herkunft, die ihr Bilderverbot brachen, bevor es ihnen ihre protestantischen Kollegen nachtaten. Doch da war den katholischen Meistern auch schon jedes erotische Feuer entwichen.

Nun glichen deren Christusdarstellungen jenen Bildchen, die heute noch in allen katholischen Kirchen dieser Welt verteilt werden und die den jungen Philipp Roth zu der Annahme ermutigten: Das muss ja die größte Schwuchtel im Nahen Osten gewesen sein. Vielleicht hat sich das in ein protestantisches Glaubensbekenntnis verwandelt.

Derzeit steht die katholische Kirche in dem scheinbar unauflöslichen Dilemma, dass alle ihre unprotestantischen Eigenheiten in Misskredit geraten sind. Die Hierarchie, das Papsttum, das Zölibat, die Priesterweihe. Alles hängt mit allem zusammen und alles steht in Frage. Es gibt keinerlei wissenschaftlichen Beleg dafür, dass im Zölibat lebende Menschen ein höheres Maß an Perversion und Missbrauch pflegen als andere. Aber es gab und gibt gute Gründe, den Beichtvater vom Heiratsmarkt auszuschließen, sonst wäre nämlich eine halbwegs unbefangene Beichte schlechthin nicht mehr vorstellbar. Also: Am Zölibat hängt die für die katholische Kirche unaufgebbare Institution der Beichte. Noch am Rande: für das gemeinsame Abendmahl ist nicht nur entscheidend, dass man die Gaben für das Blut und den Leib Christi hält, sondern vor alle dem: dass dieser auferstanden ist. Da geht es nicht mehr um ökumenische Verabredungen, sondern um die Sache.