Hoch die Kinderschokolade!

Der Kongress von Tunix in Westberlin war wie ein gigantischer antiautoritärer Kinderladen. Er hat das Leben vieler Menschen verändert: Tausend Initiativen entstanden und auch die taz – denn unter dem Pflaster lag tatsächlich ein Strand

Um zu einer der Veranstaltungen zu Staatsrepression, Antipsychiatrie oder alternativer Medienpraxis zu gelangen, mussten wir über Menschen in Schlafsäcken steigen, über Aschenbecher, Flaschen, Rucksäcke, Flugblätterberge. In „Klein-Woodstock“ gab es Theater und Tanz und Trüppchen, die zum Wändebemalen in die Stadt ausliefen

VON UTE SCHEUB

Die Kinder der 68er hatten es gut – sie durften auf Klavieren herumtrampeln und die Wände beklecksen. Wir 78er hatten es nicht so gut, wir kamen aus nazinahen Familien, wir waren zu jung gewesen für die Studentenrevolte und zu alt für die antiautoritären Kinderläden. Also schufen wir unseren eigenen Kinderladen, in dem wir tanzten und lachten und Wände bunt malten und Indianergeschichten erzählten: den Tunixkongress der „Spontis“ und „Stadtindianer“.

Tunix, entstanden aus Trotz diesem Staat gegenüber, war eine Explosion von kindlicher Fantasie und Kreativität, aus der tausend Projekte entstanden: Stadtteilzeitungen, Bäckereikollektive, Bürgerinitiativen. Obwohl Sozialdemokraten wie Peter Glotz oder Altlinke wie Tilman Fichter die „Verweigerungshaltung“ bejammerten, bewies Tunix eines: Die Ablehnung aller alter Formen von Politik und Organisation, das Beharren darauf, alles neu erfinden zu wollen, setzt ungeheure Kreativkraft frei. Nicht immer, aber eben doch ja.

Wir waren die Weder-Nochs, auf der Reise nach Nirgendwo. Wir waren gegen die BRD und gegen die DDR, gegen Kapitalismus und Realsozialismus, gegen Schinderei und ideologischen Schindluder, wir suchten den Strand unter dem Pflaster und das Pflaster unter dem Strand. „Wir, die wir schon eine Weile auf unseren gepackten Koffern sitzen, schlagen vor, dass alle sich bis zum 30. März 1978 aus diesem Deutschland verpfeifen“, heißt es in dem Aufruf der Kongressorganisatoren. „Wir flaggen unsere Traumschiffe mit den buntesten Fahnen und segeln in den Süden davon – zum Strand von Tunix.“

Das war die typische Sprache von damals. Kindlich, verträumt, zärtlich, wütend, gespickt mit Regressionswünschen, die wir zugleich voller Selbstironie aufspießten, sehnsüchtig nach einer besseren Welt schielend, von der wir doch wussten, dass sie nur im Nirgendwo existiert, in der Utopie, in Tunix eben. Und ganz sicher nicht im „Modell Deutschland“ der regierenden Sozialdemokraten, das wir zornig ablehnten, weil es für uns gleichbedeutend war mit Berufsverboten und staatlicher Repression. Aber auch nicht im „Modell Sowjetunion“ oder „Modell China“, diesen verschimmelten Ladenhütern der stalinistischen Sektierer, die wir genauso bekämpften. Wir waren die Weder-Nochs, und auf der Tunixdemonstration, bei der eine Bundesflagge als Sinnbild des „Modells Deutschland“ verbrannt wurde, riefen wir möglichst sinnfreie Parolen, um die Genossen von DKPDAOML zu veräppeln: „Nieder mit den atlantischen Tiefausläufern, Solidarität mit dem Azorenhoch!“ Oder: „Hoch die internationale Kinderschokolade!“

Es waren drei euphorische Tage zwischen eng zusammengepressten Leibern aus Paris, Bologna und Villingen-Schwenningen, wohl die größte und internationalste Konferenz seit dem legendären Vietnamkongress. Der Tagungsort Technische Universität war überlaufen. Um zu einer der Veranstaltungen zu Staatsrepression, Antipsychiatrie oder alternativer Medienpraxis zu gelangen, mussten wir über Menschen in Schlafsäcken steigen, über Aschenbecher, Flaschen, Rucksäcke, Flugblätterberge. In „Klein-Woodstock“ gab es Theater und Tanz und Trüppchen, die zum Wändebemalen in die Stadt ausliefen. „Bringt farben mit nach berlin“, hatte jemand einen Aufruf im legendären ID verfasst, im Frankfurter Informationsdienst zur Verbreitung unterdrückter Nachrichten. Farben für „betonflächen abrißbauten schmirgelpapierwänden der unterführungen und bretterzäune, die wir bemalen, bekritzeln, beschmieren, ankotzen, streicheln. hier kann unsere phantasie ihre macht verwirklichen, symbole der rebellion aus alten kinderzeichnungen wiederentdecken …“

Tunix war Kinderwelt, aber auch Männerwelt. Auf den Podien: nur Männer. Die einzige Frau, an deren Auftritt ich mich vage erinnere, ist Helga Goetze. Nachdem sie in einer Fernsehsendung unter dem Titel „Hausfrau sucht Kontakte“ ihre sexuellen Wünsche ausgeplaudert hatte, erschien sie überall uneingeladen, auch in Tunix, und rief fröhlich zum „Ficken! Ficken“ auf, was ihr seitens der Bild-Zeitung den Titel „Supersau der Nation“ einbrachte.

Zur Kinderwelt gehörte der Zustand des verantwortungsfreien Nichtstuns, das kreative Oszillieren zwischen Realität und Fantasie. Nur „Tunix“ komme neben „Dada“ die Ehre zu, „aus dem Nichts heraus zu einem Massenbegriff“ geworden zu sein, berichtete der ID über diesen Kongress: „O ihr engherzigen Tröpfe, ihr nimmersatten Gschaftlhuber: wenn IHR unter dem Motto ‚Tu was‘ die Menschen dieser Welt gerufen hättet, es wären nur 3 gekommen. In Worten: drei. So aber kamen etwa 20.000, die haben zwar nix gefunden, die wußten aber, warum sie es suchten. In Tunix vereinigt sich Raum und Zeit zu einem Zustand. In Tunix wird das Wegsacken nach schräg unten als Lustprozeß gefeiert. In Tunix kriegt jeder ‚Ätsch‘ gesagt, der mit dem Hinweis auf die Auswegslosigkeit des Lebens die kollektive Grabesmiene fordert. Tunix heißt mit den Worten von Paul Scheerbart (1898): Neinzusagen zu Allem und Sitzenbleiben wo man grade sitzt – das scheint mir das Beste zu sein.“

Ich kleines Studentlein blieb auch sitzen, wo ich grade saß, in der Veranstaltung „Linke Tageszeitung für die BRD und Westberlin“, und das sollte mein Leben verändern. Christian Ströbele saß auf dem Podium, und jemand von der französischen Libération, und noch einige Mannen. Sie erzählten davon, dass es nun genug sei an Medienzensur, wie im Deutschen Herbst zur Zeit der Schleyer-Entführung erlebt, dass die undogmatische Linke eine undogmatische Tageszeitung brauche, kein Parteiorgan, sondern ein lautes Flüstertütchen für die linke bunte Sprachenvielfalt.

Wer das Projekt unterstützen wolle, solle mitmachen, in Berlin oder anderswo. Und es sprießten mehr als zwanzig Initiativen wie Pilze aus der Muttererde des Tunixkongresses, in jeder größeren Stadt, und wir stritten uns ein Jahr lang über alles und nichts und brachten die taz zustande.

UTE SCHEUB, Jahrgang 1955, taz-Mitbegründerin, lebt als freie Autorin in Berlin