Die wollen nicht nur, die können auch

KULTURELLE KOMPETENZEN Selbständige mit Migrationshintergrund können mehr als Deutsch. Ihre wirtschaftliche Bedeutung wächst

Allein in diesem Jahr werden von Migranten rund 150.000 Arbeitsplätze geschaffen

VON OLE SCHULZ

Thilo Sarrazin hat mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ eine polemische politische Debatte losgetreten, welche die Republik in ihren Grundfesten zu erschüttern droht. Dass er dabei eine Reihe von äußerst fragwürdigen Daten und Thesen vorgelegt hat, ist inzwischen vielfach kritisiert worden. Schon im Vorjahr hatte sich Sarrazin zu der Behauptung verstiegen, eine große Zahl an Arabern und Türken hätte „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel“.

Doch aktuelle Studien ergeben ein ganz anderes Bild: Laut der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer sind in Deutschland derzeit rund 580.000 zugewanderte Selbständige aktiv, davon sind allein 71.000 türkischstämmige Unternehmer, die in mehr als 150 Branchen tätig sind. Die meisten dieser Unternehmen sind kleinbetrieblich organisiert und beschäftigen durchschnittlich vier bis fünf Arbeitnehmer. Weit über eine Million Arbeitsplätze in Deutschland wurden demnach durch Migranten geschaffen.

Auch andere Institutionen betonen die wachsende Bedeutung, welche Unternehmensgründungen durch Selbständige mit Migrationshintergrund mittlerweile für den Wirtschaftsstandort Deutschland haben. „Wir gehen davon aus, dass allein in diesem Jahr durch von Migranten neu gegründete Unternehmen rund 150.000 Arbeitplätze geschaffen werden“, sagt Marc Evers, Existenzgründungsexperte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK).

Laut Evers ist die Zahl von Migranten mit Gründungsvorhaben in den letzten Jahren gestiegen und umfasste 2009 fast ein Fünftel aller potenziellen Selbstständigen. Dabei seien sie in allen Branchen aktiv. Der Schwerpunkt liege im Handel- und Gastgewerbe, wo sie im Vergleich zu Deutschen überdurchschnittlich vertreten seien. Eine Aufschlüsselung der durch die Gründungsberatungen der Industrie- und Handelskammer (IHK) gewonnen Daten nach Herkunftsländern sei aber nicht möglich.

Fest steht dennoch, dass dem Vorurteil, Türken und Araber taugten allenfalls als Chefs für den kleinen Döner- oder Falafel-Imbiss um die Ecke, heute unzählige Beispiele erfolgreicher Betriebe mit türkischen und arabischen Inhabern entgegenstehen. Das sind nicht nur Karrieren von Gemüsehändlern, die sich zu Supermärkten entwickelt haben, oder Fleischverarbeitern, die nun ganz Europa beliefern.

Die bekannteste Selfmade-Story ist wohl die von Vural Öger. Er kam Anfang der 60er Jahre aus der Türkei nach Deutschland und studierte hier Bergbau und Hüttenwesen. Heute ist sein Touristikunternehmen „Öger Tours“ der europaweit größte Anbieter von Türkeireisen – mit einem Umsatz von fast 700 Millionen Euro im Urlaubsjahr 2008/09.

Für Öger, der dieses Jahr auch als Repräsentant für die Deutschen Gründer- und Unternehmertage (deGUT) fungiert, kann gerade die Kenntnis zweier verschiedener Kulturen eine besondere unternehmerische Stärke sein: „Ich sehe gerade bei den türkischstämmigen Gründern einen Vorteil, da sie in der Lage sind, die sogenannten ,typisch‘ türkischen und deutschen Eigenschaften zusammenzubringen: die deutsche Einstellung zur Arbeit, die Disziplin und Pünktlichkeit, aber gleichzeitig auch die den Türken angeborene Flexibilität und ihr Improvisationstalent.“

2002 trat Öger, der Mitglied der Zuwanderungskommission war, wegen der restriktiven Haltung der Unionsparteien in der Zuwanderungsfrage schließlich der SPD bei. Die aktuelle Diskussion, bei der CDU/CSU-Politiker populistisch auf Sarrazins Spuren wandeln, hat Öger in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung unlängst als „geistige Brandstiftung“ an der „Grenze zur Volksverhetzung“ bezeichnet, die „gefährlich“ und „integrationsfeindlich“ sei.

Das ist auch aus genuin ökonomischen Gründen unsinnig. Denn der Gründergeist von Migranten wird in Zukunft noch deutlich stärker gebraucht werden, wenn der derzeitige Trend anhält. „Wegen der demografischen Entwicklung wird es im Jahr 2050 in Deutschland etwa 700.000 Selbständige weniger als heute geben“, sagt DIHK-Experte Evers. Das bedeute auch ein Minus von etwa 2 Millionen Arbeitsplätzen.

Um diesem bedrohlichen „Unternehmermangel“ vorzubeugen, fordert Evers eine „Willkommenskultur für ausländische Existenzgründer und Fachkräfte“. Dazu gehöre allerdings sowohl, dass man solche Gründungswilligen und Experten aus dem Ausland nicht wie „Bittsteller“ behandle, als auch, dass diese „die deutsche Sprache sowie die Gepflogenheiten des deutschen Geschäftsverkehrs erlernen“.

Neben der Fähigkeit, sich in der Landessprache verständigen zu können, ist die Kenntnis der Formalitäten und rechtlichen Rahmenbedingungen fraglos eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Firmengründung. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann gehe es, so Evers, einzig und allein um das unternehmerische Konzept: „Man muss eine gute Geschäftsidee haben, die man in Zahlen fassen und Banken wie Kunden kurz und bündig erklären kann.“

Die derzeitige Debatte um Integration und Zuwanderung hält auch Evers für überzogen: „Pauschalisierungen und Diffamierungen ganzer Gruppen bringen gar nichts. Was wir brauchen, sind findige Köpfe und gut ausgebildete Fachkräfte – ganz gleich, woher sie kommen.“