Mahlzeit!

SOZIALE FRAGEN Auf der Grünen Woche dreht sich alles ums Essen: von heimischen Klassikern bis hin zu Exotischem. Aber wie steht es um unsere Esskultur im Alltag?

■ Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer Mahlzeiten wird in den folgenden Büchern vertiefend behandelt. Soweit im Haupttext nicht anders vermerkt, sind die dort aufgeführten Zitate diesen beiden Anthologien entnommen.

■ Mahlzeiten. Alte Last oder neue Lust? Gesa Schönberger, Barbara Methfessel (Hrsg.), Wiesbaden 2011, VS Verlag, 159 Seiten, 29,95 Euro.

■ Die Zukunft auf dem Tisch. Analysen, Trends und Perspektiven der Ernährung von morgen. Angelika Ploeger, Gunther Hirschfelder, Gesa Schönberger (Hrsg.), Wiesbaden 2011, VS Verlag, 437 Seiten, 36 Abbildungen, 29,95 Euro. (lk)

VON LARS KLAASSEN

Gebackenes Kamel (mit Füllung), für ca. 400 Personen:

500 Datteln, 200 Regenpfeifereier, 20 Karpfen (Zweipfünder), 4 Trappen (gereinigt und gerupft), 2 Schafe, 1 großes Kamel, div. Gewürze

Man grabe ein Feuerloch. Flammenmeer auf ca. 1 m tiefe Lage glühender Kohlen hinunterbrennen lassen. Die Eier separat hart kochen. Die gerupften Karpfen sodann mit geschälten Eiern und den Datteln füllen. Die fein gewürzten Trappen mit den gefüllten Karpfen füllen. Schafe mit den gefüllten Trappen füllen, sodann Kamel mit den gefüllten Schafen füllen. Das Kamel kurz ansengen, dann mit Doumpalmenblättern umwickeln und in der Glut vergraben. Zwei Tage lang backen. Als Beilage Reis servieren.

Dieses Rezept aus T. C. Boyles Roman „Wassermusik“ ist exotisch. Weniger aufgrund der Zutaten, denn die Globalisierung hat auf unseren Tellern ja längst stattgefunden. Ungewöhnlich sind vielmehr die lange Zubereitungszeit und die Menge. Kaum jemand macht sich heute noch länger als 30 Minuten mit der Zubereitung seiner Mahlzeiten zu schaffen. Und für mehr als zwei Leute wird hierzulande am eigenen Herd auch immer seltener gekocht. Früher war ja angeblich alles besser: Da wurde noch mit Hingabe und Liebe gekocht, die Familie fand bei Tisch zusammen, und die drei Mahlzeiten am Tag waren der Inbegriff sozialer Harmonie. Dieses Bild wird heute zwar gern projiziert. Aber die Realität sah auch früher schon anders aus. Und dass die gute alte Mahlzeit nicht mehr das ist, was sie angeblich mal war, steht außer Frage. Wir leben ja auch nicht mehr wie vor 30 Jahren.

Mahlzeiten gelten als sozialer Sammelpunkt. Gesa Schönberger, Geschäftsführerin der Dr.-Rainer-Wild-Stiftung für gesunde Ernährung, hat eruiert, dass Ein- und Zweipersonenhaushalte mittlerweile einen Anteil von 38 beziehungsweise 34 Prozent haben. Haushalte mit drei und vier Personen kommen hingegen auf jeweils nur 14 Prozent. Kulinarisches Familienglück ist also vor allem durch das Schwinden der Familienhaushalte seltener geworden. Eine deutlich gestiegene Mobilität, „Anpassungszwänge an flexible Arbeitszeiten“ und somit ein „knappes Zeitbudget“ macht Schöneberger zudem aus. Kein Wunder also, dass sich Fertigprodukte – die es in der heute üblichen Breite und Qualität früher auch nicht gegeben hat – zunehmender Beliebtheit erfreuen. „Im Trend liegen Produkte, die sich besonders schnell zu einer Mahlzeit herrichten lassen: Express-Teigwaren, 3-Minuten-Nudeln, 8-Minuten-Reis, 5-Minuten-Milchreis“.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts weissagte John Harvey Kelloggs, ein Wegbereiter des Functional Food, dass die Mahlzeiten der Zukunft nur noch aus einigen Pillen und nahrhaften Getränken bestehen würden – Essen ohne Bindung an Ort und Zeit. Über den aktuellen Stand unserer Esskultur würde er sich höchstens deshalb nicht freuen, weil sie ihm nicht weit genug ginge. „Je nach Blickwinkel wurde in den letzten 150 Jahren das Ende der Familienmahlzeit und damit der Familie überhaupt beklagt“, so Kirsten Schlegel-Matthies, Professorin für Ernährung, Konsum und Gesundheit an der Universität Paderborn. Oder eben das Gegenteil sei herbeigesehnt worden, eine durchrationalisierte Esskultur.

Das Ideal der Koch- und Esskultur, deren Verlust heute immer wieder beklagt wird, ist aber so alt auch wieder nicht. „Erst seit Ende des 18. Jahrhunderts verringerten sich die öffentlichen Mahlzeiten zugunsten der privaten“, betont Schlegel-Matthies. Der aktuelle Trend, insbesondere aufwendigere Mahlzeiten verstärkt außer Haus – also im Restaurant – zu genießen, ist also die Rückkehr alter Gewohnheiten mit anderen Mitteln. Und was die Klage über soziale Verluste bei Tisch angeht, sollten wir uns laut Schlegel-Matthies auch nichts vormachen: „Festzuhalten bleibt, dass auch die (Familien-)Mahlzeiten der vermeintlich so ‚guten alten Zeit‘ der Abgrenzung dienten.“ Von wegen Harmonie: Familienhierarchie wurde bei Tisch auch mit härteren Bandagen durchexerziert.

Ende des 18. Jahrhunderts verringerten sich die öffentlichen Mahlzeiten zugunsten der privaten. Mit anderen Mitteln kehren wir dorthin zurück

Der Soziologin Eva Barlösius zufolge sind Mahlzeiten nach wie vor sowohl ein Mittel zur Vergemeinschaftung als auch zur sozialen Distinktion. In trauter kulinarischer Runde ist heute zwar Gemeinschaft auf Augenhöhe angesagt ist, aber nach außen hin muss der Status dieser Runde unter Beweis gestellt werden. Das fängt bei der Frage an, was auf den Tisch kommt: Die Herzoginkartoffel zum Beispiel genoss früher nicht zuletzt deshalb einen exzellenten Ruf, weil sie aufwendig zubereitet werden musste. In Zeiten vorgefertigter Exemplare ist es damit vorbei. Pellkartoffeln hingegen, die lange als Armeleuteessen galten, wurden mittlerweile von Gourmets wiederentdeckt.

Was die Masse nicht kennt, nicht kocht und nicht verspeist, punktet. Distinktion war früher vor allem von Regeln über das richtige Besteck, die richtigen Gläser und deren Handhabung geprägt. Heute hingegen, so Christoph Klotter, Professor für Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der Hochschule Fulda, rücke zudem die Frage nach dem „richtigen Essen“ in den Vordergrund. Vor allem gesund soll es sein: „Die Schlankheitsnorm ist ein ideales Instrument, um kollektiv das Essverhalten zu kontrollieren.“

Das überhöhte Ideal der perfekten Mahlzeit kann überfordern. Andererseits: Wer was wann isst, das kann heute mehr denn je fast jeder für sich selbst entscheiden. Was immer auch künftig auf unsere Teller kommt: „Der Mensch kann die Kultur seiner Mahlzeit bestimmen und verändern“, sagt Gesa Schönberger. Das Beste dabei: „Abschaffen lässt sich die Mahlzeit nicht.“