CHARKOW IST NICHT NUR KNAST
: Glück und Lebensfreude

MARKUS VÖLKER

OSTWÄRTS IMMER

Es mag ja so manchen westlichen Politiker überraschen, aber es gibt in der Ukraine so etwas wie Lebenslust und ein nonchalantes In-den-Tag-hinein-Leben. Ich bin in Charkow angekommen, in der Stadt der Julia Timoschenko. Hier sitzt sie im Knast. Hier trat sie in einen Hungerstreik. Hier blickt alle Welt auf das offensichtliche Demokratiedefizit dieses Landes. Die Moralapostel aus dem Westen tun das manchmal so penetrant, dass die Charkower genervt sind. Verständlich, ihr Alltag besteht nicht nur aus Julia Timoschenko. Sie haben ganz andere Probleme. Ihre Wirklichkeit ist nicht mit Leitartikeln zu fassen.

Man hätte vermuten können, dass diese Stadt im Griff der Spezialkräfte von Polizei und Innenministerium ist, dass die Charkower nicht nur unter der Knute des Lokaloligarchen Jaroslawski, Besitzer des Fußballklubs Metalist, stehen, sondern generell keinen Mucks machen, weil ihnen das Staatschef Wiktor Janukowitsch vielleicht verordnet hat.

Aber diese Stadt, die sich mit Temperaturen von fast 40 Grad im Schwitzkasten des Sommers befindet, pulsiert. Sie lebt. In ihr suchen die Charkower ihr kleines Glück. Im Park tanzen Hare-Krishna-Anhänger ekstatische Tänze. Die Schönen der Stadt flanieren durch die Alleen. Ein großer, unsichtbarer Laufsteg zieht sich durch den Park. Die Stimmung ist mediterran.

Das monströse Denkmal des Dichters Taras Schewtschenko ist von holländischen Fußballfans aufgehübscht worden. Auf ein paar Köpfen des Bronzeensembles sitzen orangefarbene holländische Bauhelme. Die Charkower finden das lustig und fotografieren die behelmten Gestalten. Die Stadt feiert sich selbst und den Fußball. Holländer, Charkower, Deutsche sitzen auf dem Rasen, in den Pavillons, an Springbrunnen und versuchen, die Hitze zu vergessen.

So sommermärchenhaft leicht hätte ich mir die Ostukraine nicht vorgestellt – vor allem nicht nach dem Abenteuer, das ich im Winter in Donezk erlebt habe. Grau war die Stadt, unwirtlich und durch und durch oligarchisch. Mein Abschied von Charkow erinnert mich dann leider wieder an Donezk.

Wir sitzen eine halbe Ewigkeit in einer Maschine, ohne abzuheben. Nach fast drei Stunden ruft ein Passagier: „Willkommen an Bord der Landshut!“ Ein anderer will ein Loch in den dreckigen Schnee pissen, der die Ukraine für ihn ist. Der Kapitän sagt: „So was Unfähiges habe ich noch nie erlebt.“ 4.27 Uhr nachts hebt das Flugzeug endlich ab. Draußen ist es schon wieder hell. Ein schöner Charkower Sommertag beginnt. Es geht zurück an die Ostsee. Ciao Charkow, du Perle des Ostens!