Historiker über die EM in der Ukraine: „Die Führung in Kiew einfach ignorieren“

Der Historiker Jörg Baberowski plädiert dafür, dass demokratische Politiker den EM-Spielen in der Ukraine fernbleiben. Das trifft die Verantwortlichen am empfindlichsten.

Der Uefa sind die politischen Verhältnisse in der Ukraine egal, sagt Jörg Baberowski. Bild: reuters

taz: Herr Baberowski, ist es angemessen, zur Fußball-EM in der Ukraine über die dortigen Menschenrechtsverletzungen zu sprechen?

Jörg Baberowski: Natürlich. Und ich würde mir mehr von diesen Interventionen wünschen. Leider wird die Ukraine anders als Russland behandelt.

Inwiefern?

Die Ukraine wirkt bei uns, auch in ihrer Selbstrepräsentation, als Teil Europas. Bei Russland drückt man hingegen jedes Auge zu, und zwar mit dem Hinweis, dass es dort ohnehin nie etwas anderes gegeben hat als die Diktatur.

Russland …

… hat diesen Putin, so könnte man diesem Denken zufolge sagen, offenbar verdient! Bei der Ukraine hingegen ist man der Auffassung, dass es an Europa heranrücken soll, weil es ein Teil davon ist – und deshalb müssten andere, kritischere Maßstäbe angelegt werden.

51, lehrt an der HU Berlin Osteuropäische Geschichte. Zuletzt erschien von ihm im C. H. Beck Verlag das Buch „Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt“.

Welche Maßstäbe wären denn für die Ukraine und deren inhaftierte Politikerin Julia Timoschenko angemessen?

Jene, die für alle Länder gelten müssen: dass Menschen, die anderer Meinung sind, nicht umgebracht oder eingesperrt werden.

Man müsste in der Ukraine jetzt während der EM mehr machen – was heißt das konkret?

Man könnte mit dem Regime so verfahren wie mit der Regierung in Minsk. Die EU hat die Beziehungen zum weißrussischen Regime auf Eis gelegt und erklärt, dass der Diktator Lukaschenko und seine Gefolgsleute in der EU unerwünschte Personen sind.

Nützt es der demokratischen Opposition in der Ukraine, wenn ein westlicher Politiker nicht zu einem EM-Spiel reist?

Unbedingt! Ich weiß, dass auch in der Ukraine das Symbolische eine ungeheure Bedeutung hat – wie ja auch in Russland. Wir im Westen mögen das als Nebensächlichkeit verstehen, aber die politischen Eliten unternehmen alles, damit sie als Teil Europas angesehen werden. Wenn sie allein auf der Ehrentribüne sitzen müssen, trifft sie das heftig.

Empfände die ukrainische Bevölkerung das nicht auch als unhöflich gegen das Land selbst?

Nein, sie würde erkennen, dass ihre Regierung nicht anerkannt wird.

Würden Sie Kanzlerin Merkel abraten, zum Fußball nach Kiew zu fliegen?

Oh ja. Der Opposition würde diese Geste helfen, sich gegenüber der Regierung als eigentliche Europäer zu profilieren. In der Bevölkerung wird registriert, dass die Herrschenden boykottiert werden.

Was halten Sie jenseits der aktuellen Politik von Besuchen deutscher Fußballspieler im früheren Konzentrationslager von Auschwitz?

Besuche in Auschwitz finde ich problematisch, wenn sie nicht aus einem inneren Bedürfnis heraus kommen. Wenn ein Mannschaftsbus Spieler auswirft, die auswendig gelernte Sätze aufsagen, ist das entwürdigend. Eine solche ritualisierte Gedenkkultur lässt die Erinnerung an den Holocaust zu einer lästigen Pflichtveranstaltung verkommen.

Den meisten Fußballfans ist das Politische vermutlich irgendwie egal.

Natürlich ist denen das jetzt einerlei. Daraus sollte man aber nicht schlussfolgern, dass die Fans, die jetzt ihren Spaß haben wollen, für solche politischen, historischen Fragen nicht sensibilisiert werden können. Man erreicht nur das Gegenteil, wenn man sagt: Das ist falsch, dass ihr jetzt hier Spaß habt, ihr müsst noch einen Pflichtbesuch in Auschwitz ableisten.

Würde hat bei diesem Spaß keinen Raum?

Genau.

Heißt das dann nicht, dass Sport etwas Würdeloses hat?

Alles, was mit Spaß zu tun hat, hat wenig mit Würde zu tun. Ich habe noch keinen Politiker gehört, der – etwa beim Eurovision Song Contest in Aserbaidschan – verlangt hat, nun müsse Würde ins Spiel kommen. Oder man müsse vorher noch einen Kranz niederlegen. Beim Fußball scheint das anders zu sein.

Warum ist das so?

Weil dieser Sport eine größere nationale Bedeutung hat, weil Nationen gegeneinander antreten? Vielleicht ist es das. Spaßveranstaltungen haben aber immer die Funktion, das, was man Würde nennt, hinter sich zu lassen – sonst wäre es ja kein Spaß.

Was kann man tun, wenn ein Event wie die EM in einem Land wie der Ukraine stattfindet?

Man hält dagegen, indem man seinen Spaß hat, die Vertreter des Regimes ignoriert und sie auf keinen Fall aufwertet! Kein demokratischer Politiker Europas sollte ihnen seine Aufwartung machen und sich auf die Tribüne neben den ukrainischen Präsidenten setzen. Einfach ignorieren – das ist Schlimmste, was man ihnen antun kann.

Und die Touristen, die nach Charkow, Lemberg oder Donezk fahren und nebenbei Land und Leute kennenlernen?

Wie wunderbar! Dass sich Menschen in Europa treffen, ist doch gut. Ich bin gegen die Isolierung eines Landes und seiner Bevölkerung. Je mehr Begegnungen, desto besser.

Michel Platini, der Uefa-Chef, hat sich neben Präsident Viktor Janukowitsch auf die Tribüne gesetzt.

Die Uefa hat wirtschaftliche Interessen. Herrn Platini ist es egal, wer in der Ukraine regiert. Oder in Russland. Er würde sich auch mit Putin auf die Ehrentribüne setzen. Aber die Politiker müssen das ja nicht nachmachen.

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