Talentierte Faser vom Strand

NATURBAUSTOFF Mit Seegras lassen sich Häuser dämmen, Dächer decken und Polster füllen. Aber an deutschen Stränden wird der Rohstoff momentan zu Sondermüll verarbeitet

Seegraswiesen der Art Zostera marina gibt es auch in der Ostsee. Die Gräser wachsen in einer Tiefe von bis zu 17 Metern, die gelblich-grünen Blätter werden bis zu einen Meter lang.

■ Abgestorbene Pflanzenteile werden von der Strömung mitgerissen. Die Bewegungen des Wassers formen sie zu kleinen Seegras-Bällchen.

■ Zigtausende Tonnen Seegras werden an der Ostseeküste jährlich angespült. Aufgesammelt und genutzt werden derzeit nur etwa 600 Kubikmeter im Jahr.  MOKO

VON MORITZ KOHL

Wenn der römische Meeresgott Neptun seine Wohnung dämmen wollte, könnte er im heimischen Mittelmeer aus dem Vollen schöpfen. Dort wächst ein Seegras, das auch als Neptungras bezeichnet wird – und als natürlicher Baustoff vielseitig einsetzbar ist. Das Seegras wird in kleinen filzigen Bällchen an den Strand gespült. Wer es aufsammelt, reinigt und trocknet, kann es direkt verwenden.

Ein verwandtes Gewächs gibt es zuhauf an Nord- und Ostsee. Seit Anfang des Jahres handelt Jörn Hartje in Westerau im schleswig-holsteinischen Landkreis Stormarn mit Seegras aus Dänemark. „Selbstbauer stopfen es in alten Häusern in die Ecken – es ist aber auch für Neubauten geeignet“, sagt er. Außerdem verkaufe er an Firmen, die das Gras weiterverarbeiten.

Seegras nimmt aus dem Meer einen hohen Salzgehalt mit – und hat deswegen laut Hartje einige Vorteile. Es halte Schädlinge fern, sei schwer entzündbar und unempfindlich gegen Feuchtigkeit. „Das Salz nimmt das Wasser auf und lässt es auf natürlichem Weg wieder verdunsten“, erklärt Hartje, „es schimmelt nur, wenn es ständig feucht ist.“

Ähnliche Eigenschaften weisen auch synthetische Dämmstoffe auf – aber die müssen dazu erst mit Chemikalien behandelt werden. „In diesen Materialien sind oft Borate enthalten, die in großen Mengen der Gesundheit schaden“, sagt der Augsburger Bauingenieur Gerhard Holzmann. Seegras hingegen sei auch für Allergiker unproblematisch und zudem ein ökologisch unbedenklicher Baustoff: „Kunststoffe werden ein paar Mal recycelt und dann zu giftigen Gasen verbrannt“, sagt der Ingenieur. „Seegras kann auf den Kompost und füllt irgendwann wieder Blumentöpfe.“

Seegras schluckt nicht nur Kälte und Schall. Hartje weist darauf hin, dass gerade Naturdämmstoffe auch im Sommer kühl halten, da sie sich nur langsam erwärmen. „Teure künstliche Materialien haben generell eine höhere Dämmkraft als natürliche“, räumt der Seegrashändler ein. Aber mit anderen Naturdämmstoffen könne sich Seegras messen, sagt Holzmann. Es sei vielfältig einsetzbar, auch als Bestandteil von Dämmplatten. „Der Fachmann kann es außerdem mit wenig Aufwand einblasen, einschütten oder mit der Hand einquetschen“, erklärt der Ingenieur. In Deutschland fehle noch eine bauliche Zulassung für das Einblasen, die dem Bauherren eine Absicherung gibt. „Wenn das genehmigt ist, kann man mit Seegras theoretisch jede Fuge und Ritze füllen.“

Vorausgesetzt, man kann es sich leisten. Manche synthetischen Stoffe wie Styropor sind derzeit deutlich günstiger. Hartje verlangt immerhin 1,70 Euro pro Kilogramm, um einen Kubikmeter zu füllen braucht man 50 Kilogramm. Der Holsteiner importiert seine Ware von der Insel Læsø im Norden Dänemarks. Dort wird Seegras schon seit Jahrhunderten benutzt, um Hausdächer zu decken. Auch dem Rest der Welt sei es schon lange bekannt. „Robert Falcon Scott hat 1910 bei seiner berühmten Südpol-Expedition die Zelte mit Seegras gedämmt“, sagt Hartje.

Vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 60er-Jahre ist es auch in Deutschland verbreitet gewesen – zum Dämmen, als Füllung für Matratzen und Kissen und sogar als Verpackungsmaterial. Dann kam das Erdöl in großen Mengen nach Deutschland und mit ihm Kunst- und Schaumstoffe. Das Seegras geriet in Vergessenheit. Dabei werden nach wie vor jeden Tag Unmengen davon an deutsche Küsten gespült. Abends räumen große Maschinen die Strände. Das Seegras vermischt sich mit Sand und Algen und landet am Ende auf dem Sondermüll. „Die Gemeinden könnten das Seegras sammeln und den Produzenten geben“, schlägt Holzmann vor. So würden die Kosten für die Entsorgung entfallen und die Preise für das Seegras sinken.

Händler Hartje ist guter Dinge, den natürlichen Baustoff in Deutschland zu etablieren. „Wir wollen eine alte Kulturtechnik wieder wecken“, sagt er. „Dafür brauchen wir Leute vor Ort, die Interesse daran haben und den Fokus weniger auf die Strandreinigung legen.“

Holzmann kennt ein Projekt, bei dem so etwas mit dem Neptungras schon funktioniert: „In Algerien hat ein deutscher Händler Arbeitslose eingespannt – dort wird jetzt ein ökologischer Rohstoff unter fairen Bedingungen gewonnen. Dafür zahlt man doch gerne ein wenig mehr.“