Heimat ist da, wo der Kampf ist

Im heutigen Iran gibt es keine Dissidenten und keine unabhängigen Veröffentlichungen

VON SOHEIL ASEFI (IRAN)

Ich saß neben meiner Mutter und meinem Vater – beide aus der revolutionären Generation und seit Jahren geschieden – irgendwo auf einer Bank in der Abfluglounge des Khomeini Flughafens in Teheran und erwartete den Aufruf zum Einsteigen, als plötzlich eine Durchsage kam: „Der Flug Nummer X von Teheran nach Frankfurt verzögert sich. Alle Passagiere werden gebeten, in der Wartehalle auf weitere Ansagen zu warten.“ Wenn sie nun mich suchen?

Endlich hebt das Flugzeug ab. Ein paar Minuten danach beginne ich an das Land zu denken, das ich für eine unvorhersehbare Zukunft hinter mir lasse. Die Stunden des Zwielichts waren immer die Zeit der Hinrichtungen von Tausenden der besten Söhne und Töchter des Irans, vor und nach der Revolution – ebenso wie für ihre Brüder und Schwestern in der Geschichte des Kampfes überall auf der Welt. So bekommt Heimat plötzlich wieder ihren Sinn, und nur ein paar Schluck Whiskey können den Schmerz für eine Weile vertreiben. Dort, wo ich geboren und aufgewachsen war, fühlte ich mich fremder als dort, wo ich hinzog; vielleicht sollte man besser sagen: an beiden Orten war ich ein Fremder. Wenn ich die Sprache eines bestimmten Landes spreche, bedeutet das, dass ich von dort bin? Ist dein Zuhause einfach nur der Ort wo du geboren bist?

Nach all diesen Jahren im Exil bin ich immer noch auf der Suche nach etwas wie Heimat. Ich hoffe, die Heimat ist in mir. Und doch herrscht, wenn es um Sprache geht, in mir ein Gefühl der Leere, das Bedürfnis nach einer Tiefe, die nur die Sprache geben kann. Manche von uns dürsten nach dieser Tiefe.

Im heutigen Iran gibt es keine Dissidenten und keine unabhängigen Veröffentlichungen. Eine Zeit lang hatte ich die Möglichkeit, für einige Zeitungen der religiösen Reformer zu schreiben. Eine der auflagenstarken Tageszeitung veröffentlichte viele meiner Artikel auf ihren Politik- und Kulturseiten – und sie kamen gut an. Auch wenn die „religiösen Reformer“, die mit dem Präsidenten Hassan Rohani – einem Neoliberalen und führenden Mann des Geheimdienstes – wieder an die Macht zurückkehrten, als „gemäßigter Klerus“ beschrieben werden, haben sie meine Gesellschaft nie geduldet, obschon meine Artikel aufgrund ihres journalistischen Stils immer auf der Titelseite erschienen. Die Hysterie der „religiösen Reformer“ gegenüber unabhängigen, radikalen und linken Gruppen führte aber dazu, dass ich irgendwann keine Möglichkeit mehr bekam, für Printmedien zu schreiben. Ich hatte keine andere Wahl, als eine eigene Zeitung zu gründen – im virtuellen Raum. Dieses Projekt wurde ebenfalls zerschlagen, Sicherheitskräfte überfielen mein Haus und konfiszierten meinen Computer, meine Entwürfe und mein Archiv. Sie nahmen sogar meine Gedichte und meine Arbeiten für die Universität mit; ich studierte damals Drehbuchschreiben.

Mein Archiv lag auf dem Tisch des Geheimdienstes

Es folgten viele Tage Einzelhaft und Verhöre. Mein großes Archiv, das zehn Jahre professioneller journalistischer Arbeit umfasste, lag auf dem Tisch des Beamten des Ministeriums für Geheimdienst innerhalb des bekannten Evi-Gefängnisses. Die Vernehmungsbeamten der Islamischen Republik fragten mich Wort für Wort über jeden meiner Artikel aus, sie wollten etwas über meine „Motivation“ erfahren – warum ich „so etwas“ tue! Jedes Wort, das sich in dem Stapel meiner Artikel befand, musste ich rechtfertigen.

Auf der Suche nach einem Heimatland bin ich durch die Welt gewandert. Doch du musst zuerst ein aktives Mitglied einer Gesellschaft sein, du musst die Sprache des Landes gut sprechen, erst dann kannst du sagen, wo du lebst, erst dann hast du die Farbe deines neuen Ortes gefunden. Für mich ist die Farbe Deutschlands etwas grau. Doch lasst uns mit Manès Sperber „Wie eine Träne im Ozean“ reisen, um die wirkliche Farbe herauszufinden. Der Kampf ums Überleben geht weiter. Mein Leben ist immer noch nicht stabil. Am meisten fürchte ich, in das zu verfallen, was iranische Journalisten „das Exilsyndrom“ nennen. So als wäre mein Verständnis des Iran eingefroren, als ich ihn verließ, als wäre ich jetzt nicht mehr in der Lage, die Ereignisse vor Ort zu verstehen.

Das Wesentliche ist, dass der Kampf für Demokratie und soziale Gerechtigkeit fortgeführt wird, und zwar überall auf der Welt. Überschreiten wir also Grenzen und Länder. Reden wir über das Wesen von „Queerness“. Reisen wir zusammen vom Evin-Gefängnis, wo iranische Menschen unter den brutalen Sanktionen der sogenannten internationalen Gemeinschaft leiden, nach Guantánamo und zu den kalifornische Hungerstreikenden. Erinnern wir uns bei dieser Reise an Rahman Hatefi, einen bekannten iranischen Journalisten und Aktivisten, der 1979 zur Zeit der Revolution einer der Herausgeber der Zeitung Kayhan war. Er starb 1983 unter der Folter. Und gehen wir durch die orwellschen Zeiten, in denen wir jetzt leben. Mit den Bildern von Edward Snowden und Chelsea Manning, von Mumia Abu-Jamal und Barrett Brown in den Händen steht unser unabhängiger arbeitsloser Journalist im Exil gespannt und verzweifelt vor dem Brandenburger Tor oder in der Menge von Blockupy Frankfurt und angesichts der Polizei der „Demokratie“ kommen in ihm wieder die Bilder aus dem Evin-Gefängnis hoch: Er wird mit einem großen Schild um den Hals fotografiert. Heimat ist da, wo der Kampf ist.

■  Soheil Asefi, geboren 1982, ist ein unabhängiger Journalist aus dem Iran. Er wurde auf Kaution aus dem Gefängnis freigelassen und kam als Gast der Stadt Nürnberg und des PEN-Projekts „Writers-in-Exile“ nach Deutschland. In Nürnberg erhielt er 2009 den Hermann-Kesten-Preis.

Übersetzung: Thomas Pampuch