Die Wut, die im Kopf entsteht

PFLEGE Eine Demenz kann aggressiv machen. Betreuer müssen lernen, mit Angriffen von Patienten umzugehen – auch um sich selbst zu schützen

VON FENJA SCHMIDT

Ständig den Schlüssel verlegen, nachts die Herdplatte angeschaltet lassen und die eigenen Enkel nicht mehr erkennen – so stellen sich viele Menschen die Symptome von Demenz vor. Derzeit sind in Deutschland rund 1,4 Millionen Männer und Frauen betroffen. Aber Demenz bedeutet nicht nur Vergessen: Eine weitere Folge können für das Umfeld nicht nachvollziehbare Wutausbrüche und Aggressionen sein, auch wenn dieser Teil der Krankheit oft verschwiegen wird.

Gerade wenn Patienten verwirrt sind, weil sie sich nicht mehr in ihrer Umgebung zurechtfinden, kommt es zu Konflikten. Die Leiterin der Hamburger Albertinen-Pflegeschule, Karin Schiller, erklärt, dass die Betroffenen in einer solchen Situation aus einer plötzlichen Angst heraus handeln. Schnell „kann dann auch heftige Gewalt die Folge sein“.

Das Wesen verändert sich

Je nachdem, welche Bereiche im Gehirn von der Erkrankung betroffen seien, verändere sich zudem das Wesen der Patienten, sagt Colin De Silva, Arzt in der Geriatrie des Albertinen-Hauses. So könne ein einst gutmütiger Mensch durch eine Demenz reizbar und streitlustig werden. Das belastet nicht nur pflegende Angehörige – auch professionelle Pflegekräfte haben Probleme mit den gewalttätigen Patienten.

Für Pfleger gehören solche Vorfälle zum Alltag: Die Arbeit mit scheinbar hilflosen alten Menschen ist laut aktueller Studien gefährlicher, als von der Gesellschaft wahrgenommen wird. Eine dieser Studien stammt von Anja Schablon, die im Institut für Versorgungsforschung der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf arbeitet. Das Spektrum der Gewalt sei groß. Sie sagt: „Das kann verbal sein, dass die Pfleger bedroht oder beschimpft werden“, bis hin zur schweren körperlichen Gewalt, bei der die Betroffenen anschließend medizinisch versorgt werden müssen. Hierzu zählt Schablon „Schubsen, Kratzen, Beißen, Schlagen, Tritte“ als häufigste Formen.

Insgesamt 44 Prozent der von ihr befragten Pfleger gaben an, mindestens einmal im Monat körperliche Gewalt im Beruf zu erleben. In Bezug auf verbale Übergriffe waren es sogar 68 Prozent. Besonders stark betroffen sind Pflegekräfte, die in Altersheimen arbeiten; in der ambulanten Pflege zu Hause bei den Patienten gibt es die wenigsten Vorfälle.

Trotz dieser hohen Fallzahlen berichten nur wenige Medien über Gewalt gegenüber Pflegekräften. „Da fehlt einfach die Lobby“, meint Anja Schablon. Es falle vielen Menschen schwer, Patienten als gewalttätig wahrzunehmen, die durch ihre Erkrankung schuldunfähig sind. Zudem herrschte beim Thema Gewalt innerhalb der Berufsgruppe lange ein regelrechtes Tabu, sodass viele Pfleger ihre Erlebnisse lieber verschwiegen.

Dass eine Tätigkeit in der Pflege mitunter ein Hochrisikoberuf sein kann, bestätigt auch Burkhardt Zieger vom Berufsverband für Pflegekräfte Nord. Er sagt: „In der öffentlichen Diskussion wird das so nicht wahrgenommen.“ Eine gezielte Aus- und Weiterbildung der Pflegekräfte sei deshalb wichtig, damit sie Gewaltsituationen in ihrem Alltag nicht nur hinnehmen, sondern meistern können.

Deeskalation lernen

Wie die Studie der Uniklinik zeigt, ist jüngeres Pflegepersonal häufiger von Gewalt betroffen als die erfahreneren Kollegen. Dies haben auch Pflegeschulen wie die Albertinen-Schule erkannt. Hier lernen die angehenden Pflegekräfte nun in Deeskalationstrainings, wie sie Konfliktsituationen richtig vorbeugen und im Ernstfall darauf reagieren können, sagt Leiterin Schiller. Gruppengespräche helfen ihnen bei der Verarbeitung von Vorfällen, die sie in der Ausbildung bereits erlebt haben.

Eine Pflegerin erzählt, dass manche Kollegen nicht den Mut haben, über ihre Erlebnisse mit Gewalt zu reden. Sie selbst hat über ihren Arbeitgeber an Schulungen teilgenommen. „Ich habe da jetzt kein Schamgefühl mehr“, sagt sie. Durch die Weiterbildung können Pflegekräfte lernen, besser auf die Patienten einzugehen und Konflikte früher zu erkennen. Zudem verbessert sich die Atmosphäre in der Einrichtung.

Diese Maßnahmen können jedoch nur dann wirken, wenn zusätzlich die Rahmenbedingungen stimmen, sagt Zieger vom Pflege-Berufsverband: Überarbeitete oder überforderte Pflegekräfte haben es schwerer, richtig mit Gewalt umzugehen – etwa in Einrichtungen, in denen immer mehr Patienten von weniger Pflegepersonal versorgt werden müssen.

Der Umgang mit Gewalt gehöre eigentlich zum Berufsbild von Pflegekräften dazu, sagt Zieger. Zum Problem werde er erst durch andere Faktoren wie den Personalmangel. Solche Missstände wirken sich auf alle Beteiligten aus: Auch für die Patienten kann es nur von Vorteil sein, wenn die Pflegekräfte gut geschult sind und die Zeit haben, angemessen auf sie reagieren zu können.