Pssssssssst!

LÄRM In Japans alternder Gesellschaft werden Kinder oft als Ärgernis wahrgenommen. Viele Kitas in Tokio verbarrikadieren sich regelrecht, damit sich ja kein Rentner über die Kleinen aufregt

AUS TOKIO MARTIN FRITZ

Die hellen Stimmen aus dem neuen Kindergarten im Tokioter Stadtteil Nakano klingen gesund und fröhlich. Doch das Idyll täuscht: Viele ältere Anwohner haben sich gegen den Neubau gewehrt und klagen über Lärmbelästigung. „Ich kann doch nicht zu Dutzenden von Kindern ‚Psst‘ sagen“, jammerte eine alte Frau im öffentlich-rechtlichen TV-Sender NHK. Ein Rentner warnte vor Unfällen mit Fußgängern, da viele Mütter ihre Kinder mit dem Fahrrad bringen und abholen.

Solche Kulturkämpfe finden gerade an vielen Schauplätzen in Japan statt. Bis 2018 will der Staat den Bau von 400.000 neuen Plätzen in Kindergärten und Tagesstätten fördern. Nun sehen ältere Bürger die Kinder als Ruhestörer. Mehrere Klagen sind anhängig: Eine Familie verlangte von einer Tagesstätte umgerechnet 140.000 Euro Entschädigung für den durch den Lärm der Schreihälse verursachten Stress. In Kobe hängten Nachbarn Plakate mit Totenköpfen auf, um die Kinder zu erschrecken. In einem anderen Fall drohte ein Anwohner mit Gewalt.

Eine Ursache der Kinderfeindlichkeit ist die Überalterung der Gesellschaft. Während früher die Wohnviertel tagsüber wegen der vielen Pendler wie ausgestorben waren, sitzen heute viele Rentner zu Hause. Die Distanz zur Generation der Kleinkinder sei größer als früher, meint Isami Kinoshita von der Universität Chiba. „Kinder spielen heute nicht mehr auf der Straße und kommen im Alltag vieler Erwachsener nicht mehr vor“, sagt der Professor. Auf ihre Ruhe haben die Anwohner der Neubauten in Tokio seit fünfzehn Jahren sogar rechtlichen Anspruch: In Wohngebieten darf es nicht viel lauter sein als in Bibliotheken: 45 Dezibel.

Als Reaktion auf Anwohnerproteste verringern viele Tagesstätten ihre Lautstärke. Die Kinder dürfen oft nur kurze Zeit draußen spielen. Doppelfenster und dicke Wände sollen die Stimmen dämpfen. Vorhänge und Jalousien werden zugezogen, damit die Kleinen unsichtbar bleiben. „Die Einschränkung ist negativ für ihre Entwicklung“, meint Professorin Ineko Tanaka von der Universität Yokohama.

Diese Einsicht wächst inzwischen auch bei den Verantwortlichen in der Politik in vielen Städten. Dem Umwelt- und Baukomitee im Tokioter Stadtparlament liegt ein Antrag vor, die Lärmauflagen für Wohngebiete zu ändern. Spielende Kinder unter zwölf Jahren sollen nicht mehr unter den Lärmparagrafen fallen. Das Vorbild für den Vorstoß ist Deutschland: So hätten auch deutsche Kommunen auf Beschwerden reagiert, sagen die Befürworter der Änderung.

Im Tokioter Stadtteil Taishido geht man einen anderen Weg. Dort wurde früh mit den Anwohnern verhandelt und der Kindergarten so gebaut, dass weniger Lärm nach außen dringt. „Ich wünsche mir, dass sich die Kinder von ihren Nachbarn angenommen fühlen“, sagt Kindergartenleiterin Reiko Kurita. Drei Jahre nach dem Neubau hat sich der Kindergarten von Taishido in die lokale Gemeinschaft integriert. Die Kinder beteiligen sich in traditioneller Kleidung am jährlichen Straßenumzug. Bei dieser Gelegenheit finden viele alte Anwohner die Kleinen dann nicht mehr nervig, sondern niedlich und süß.