Das miese Spiel der Berufsgenossenschaften: Parteiische Sachverständige

Wen die Arbeit krank macht, braucht die Berufsgenossenschaften. Doch viele versuchen, ihre Zahlungen zu drücken: Sie beauftragen Gutachter, die Versicherte abweisen.

Nicht jeder Job ist so offensichtlich gefährlich. Bild: dpa

Seit über zwölf Jahren kämpft Winfried Karsten. Er kämpft gegen seine schwere Krankheit - und gegen die Berufsgenossenschaft (BG), die seine Leiden nicht als arbeitsbedingt anerkennt und ihm deshalb keine Verletztenrente auszahlt. Bis heute vergeblich. "Es ist ein Albtraum", sagt der 55-jährige Ingenieur.

Der Reihe nach: Karstens Kleinunternehmen bekam 1994 den Auftrag, auf dem Hüttengelände der Harz-Metall GmbH den Einbau einer Filteranlage neben einem Ofen zu überwachen, in dem waggonweise Abfallstoffe aus der Stahlproduktion verbrannt wurden. Kurz darauf wurde er schwer krank, litt an Lähmungen und dem fast völligen Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Seine Firma musste er aufgeben. Was Karsten erst zu spät klar wurde: Das Gelände, auf dem er arbeiten musste, war nachweislich hochgradig mit einer ganzen Reihe giftiger Stoffe verseucht.

Er meldete den Fall seiner Unfallversicherung, der Verwaltungs-BG, um eine Verletztenrente zu erhalten. Die lehnte seinen Antrag ab. Begründung: Bei Harz-Metall seien keine relevanten Schadstoffbelastungen festgestellt worden. Ein vom Landessozialgericht Essen eingeschalteter ärztlicher Gutachter schob die Leiden Karstens auf Diabetes und Alkoholmissbrauch - "obwohl mehrere Fachärzte mir bescheinigen, dass beides nicht zutrifft", betont Karsten. Einen Gutachter eigener Wahl vor Gericht zu berufen hätte ihn 5.000 Euro gekostet. Der Ingenieur lebte zu diesem Zeitpunkt bereits vom Arbeitslosengeld II. Sein Antrag, diese Summe zu übernehmen, wurde abgelehnt. Auf Gelder der BG wartet Karsten bis heute.

Karstens Fall steht für viele. Wer mit Betroffenenverbänden, etwa dem Verband arbeits- und berufsbedingt Erkrankter (abekra), spricht, hört viele ähnliche, oft haarsträubende Geschichten. Allen ist gemeinsam: Versicherte scheitern häufig an einem Geflecht aus zahlungsunwilligen BGen und medizinischen Gutachtern, die bestreiten, dass solche Leiden durch die Arbeitsumstände verursacht wurden.

Nur wenige reden darüber - einer von ihnen ist Ingolf Spickschen. Er war viele Jahre Mitarbeiter des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und für die Kontrolle der Berufsgenossenschaften zuständig. Seit seiner Pensionierung arbeitet er als Anwalt auf dem Gebiet. "Ich habe während meiner Arbeit gesehen, wie tausendfach Unrecht an Arbeitnehmern, aber auch Arbeitgebern begangen wurde", sagt er.

Ein anderer Insider ist Ulrich Bolm-Audorff, leitender Gewerbearzt des Landes Hessen und Mitglied des für Berufskrankheiten zuständigen Sachverständigenbeirats des Bundesarbeitsministeriums. Schon 2005 erklärte er: "Teile der Unfallversicherungsträger steuern die Quote anerkannter Berufskrankheiten durch gezielte Auswahl medizinischer Sachverständiger." Anders ausgedrückt: Viele Berufsgenossenschaften versuchten, ihre Zahlungen für Berufsrenten zu drücken, indem sie Gutachter beauftragen, die regelmäßig die Ansprüche der Versicherten abweisen. Gutachter mit einer zu hohen Anerkennungsquote würden dagegen "ausgesondert", so Bolm-Audorff.

Im Bundesministerium für Arbeit (BMAS) wird dieser Vorwurf zurückgewiesen: "Das BMAS und die Rechtsaufsichtsbehörden haben in der Vergangenheit wiederholt geprüft, ob die Gutachtenqualität insgesamt den Zielsetzungen und der sozialen Schutzfunktion der gesetzlichen Unfallversicherung genügt", so ein Sprecher. "Pauschale Behauptungen, die Gutachter neigten zur Parteilichkeit zugunsten des Unfallversicherungsträgers, sind nicht gerechtfertigt." In nur 8,7 Prozent der Fälle werden Verwaltungsentscheidungen der Berufsgenossenschaften von den Sozialgerichten ganz oder teilweise zugunsten von klagenden Versicherten abgeändert oder aufgehoben. Das bestätigt laut BMAS vor allem eins: Die paritätische Selbstverwaltung in der Unfallversicherung funktioniere. Die Versicherten hätten zudem das Recht, sich einen Gutachter auszuwählen.

Laut Spickschen "beweist diese Antwort die Parteilichkeit des zuständigen Ministeriums zugunsten der Unfallversicherungsträger": Zum einen schlügen diese regelmäßig nur drei Gutachter vor, obwohl meist beliebig viele geeignete zur Verfügung stünden. Das Recht der Geschädigten auf eigene Gutachterwahl sei zudem nicht ausdrücklich im Gesetz verankert und komme deshalb in der Praxis nicht zum Tragen. "Vor Fließband- und Gefälligkeitsgutachtern werden von offizieller Seite aus die Augen verschlossen." Spickschens Fazit: "Gesetzliche Klarstellungen im Zuge der anstehenden Novellierung des Sozialgesetzbuchs sind dringend erforderlich, um den zigtausenden Betroffener ihre berufsbedingten Gesundheitsschäden wenigstens annähernd mit Renten- und Rehaleistungen auszugleichen."

An Ärzten, die Gefälligkeitsgutachten unproblematisch finden, scheint kein Mangel zu herrschen. Vor allem zwei Motive spielen da eine Rolle: finanzielle Beziehungen zu den BGen und eine dazu passende Ideologie. Viele der bei den BGen gefragten Gutachter hätten Beraterverträge oder seien direkt an von BGen betriebenen Kliniken angestellt, sagt Bolm-Audorff. Zudem verdienten einige Ärzte durch die Begutachtung im Fließbandverfahren - einzelne bringen es auf über 500 Gutachten pro Jahr - derart gut, dass sie diese Nebeneinnahmen nicht durch eine zu versichertenfreundliche Begutachtung aufs Spiel setzen wollten. Die gesetzlich vorgeschriebene Unparteilichkeit der Sachverständigen werde durch die finanzielle Abhängigkeit gefährdet, kritisiert Bolm-Audorff. Deshalb sollten die BGen diese Gutachter nicht mehr beauftragen.

Auch der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenbeirats, Hans-Joachim Woitowitz, spricht von "engen Beziehungen zwischen bestimmten Gutachtern und den BGen". Die Argumente dieser Mediziner, die häufig ein Quasimonopol bei der Begutachtung auf ihren Fachgebieten hätten, seien vielfach überprüfungswürdig. Der Sprecher der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), Stefan Boltz, weist die Vorwürfe zurück. Seit 1. Juni 2007 vertritt dieser gemeinsame Spitzenverband die 23 gewerblichen Berufsgenossenschaften und die 27 Unfallkassen und Gemeindeunfallversicherungsverbände. Nur eine Minderheit der Fälle, so Boltz, sei strittig. Zudem unterlägen die BGen der Kontrolle der Sozialpartner und Sozialgerichte. Die geringe Zahl der von den Gerichten kassierten BG-Entscheidungen sei ein "Qualitätsbeweis für die Verfahren".

Rainer Frentzel-Beyme sieht das anders. Der emeritierte Medizinprofessor aus Bremen hat jahrelang selbst als Gutachter gearbeitet und dabei die unsauberen Methoden der einschlägigen Gutachter kennengelernt, mit denen diese die Ansprüche der Versicherten abschmettern. Da würden die Ergebnisse internationaler Studien über die Auswirkungen von Giftstoffen falsch wiedergegeben oder eigene Untersuchungen manipuliert und diese dann in den Gutachten als "Beweis" zitiert, berichtet Frentzel-Beyme. Das Renommee dieser Wissenschaftler in internationalen Fachkreisen sei "umgekehrt proportional zu ihrer Beliebtheit bei den BGen".

Für den Chemiestandort

Viele Mediziner rechtfertigen laut Frentzel-Beyme ihre Praxis mit ihrer Verantwortung für den Chemiestandort Deutschland. Alle Berufskrankheiten anzuerkennen bedeute, so die Argumentation, eine unerträgliche Belastung für die Unternehmen, die allein für die Finanzierung der Unfallversicherung zuständig sind. "Diese Leute stellen das Wohl der Industrie höher als das der betroffenen Arbeitnehmer", kritisiert Frentzel-Beyme.

Für die Verbreitung dieser Haltung unter den deutschen Arbeitsmedizinern ist vor allem die "Erlanger Schule" verantwortlich. In der fränkischen Stadt wurde das erste Institut für Arbeitsmedizin in Deutschland nach dem Krieg aufgebaut, unter Federführung von Helmut Valentin und Gerhard Lehnert. Beiden Professoren wurden in den 80er-Jahren Gutachtenfälschungen nachgewiesen. Trotzdem genießen sie bis heute hohes Ansehen in der Szene. Sie sorgten hinter den Kulissen dafür, dass ihre Schüler - von denen viele so ähnlich ticken wie ihre Lehrer - auf zahlreiche arbeitsmedizinische Lehrstühle in der ganzen Republik kamen.

Bezeichnend für die ideologische Einstellung der beiden Ärzte ist der unter ihrer Federführung vergebene Ernst-Wilhelm-Baader-Preis - benannt nach einem sehr umstrittenen Arbeitsmediziner aus der Nazi-Zeit. Dieser schrieb 1934 über seine Berufsauffassung: "Als Ärzten erwächst uns aber die Pflicht, angesichts des zunehmenden Missbrauchs unserer Sozialgesetze den Versicherungsbetrügern und insbesondere den Simulanten gewerblicher Berufskrankheiten mit Mut und Unerbittlichkeit entgegenzutreten." Viele Arbeitsmediziner sehen das heute offenbar ähnlich.

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