Betroffene über Ehrenmorde: "Lass dein Herz nicht brennen"

Fatma Bläser sollte für die Familienehre sterben. Heute spricht sie in Schulen über Zwangsehen und Freiheit. Sie fordert: "Wir brauchen eine migrantische Frauenbewegung".

Die 23-Jährige Hatun Sürücü wurde in Berlin von einem ihrer Brüder erschossen. Bild: dpa

taz: Frau Bläser, vor kurzem wurde wieder ein Mädchen aus einer muslimischen Familie in Hamburg von seinem Bruder ermordet. Hat sich seit dem Tod von Hatun Sürücü im Jahr 2005 denn nichts verändert?

Fatma Bläser: Doch. Diese Morde sind nun öffentlich geächtet. Wenn der Mörder jetzt ins Gefängnis kommt, dann wird ihm nicht mehr auf die Schulter geklopft. Stattdessen verliert die ganze Familie öffentlich ihr Gesicht. Das ist viel wert. Aber damit geraten zugleich auch die Migranten immer stärker unter Druck.

Wie meinen Sie das?

Je mehr Wege wir finden, um den Frauen aus ihrer ausweglosen Situation herauszuhelfen, desto wütender werden die Männer, weil sie ihre patriarchale Position verlieren. Diese Gesellschaft fordert offensiv eine andere Rolle für die Frauen. Aber wir müssen mit den Jungen arbeiten - sonst können wir den Frauen nicht helfen.

Allen Hilfsstellen war die bedrohliche Lage von Morsal O. bekannt, dem afghanischstämmigen Mädchen aus Hamburg. Hätte man sie zu ihrem eigenen Schutz einsperren müssen, wie manche fordern?

Nein, aber besser betreuen - auch nachdem man sie zum Schutz in ein Heim gebracht hat. Viele Mädchen denken, nach einiger Zeit sei die Gefahr vorüber. Im Heim fühlen sie sich plötzlich einsam. Sie wollen der Familie zeigen, dass sie sie lieben - und gehen zurück. Das ist ähnlich wie im Frauenhaus. Die Finanzierung ist so schlecht, dass die Mitarbeiterinnen nicht so für die Frauen da sein können, wie die es brauchten.

Die Behörden haben also auch Schuld?

Ja. Wenn ein bedrohtes Mädchen zurückgeht, dann müsste jemand mitgehen und mit der Familie arbeiten. Zu oft sagen die zuständigen Stellen: "Sie ist wieder zu Hause, da kann man nichts machen."

Wenn Sie so etwas gegenüber der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer äußern, was hören Sie dann?

Frau Böhmer hört die Leute an der Basis nicht an. Weil sie dann sehen würde: Der Schutz dieser Frauen kostet wirklich Geld. Das möchte die Regierung nicht ausgeben.

Was würden Sie dem Hamburger Senat und den Hilfsstellen denn konkret raten?

Es braucht eine Art Fallmanager. Die müssen alles durchgehen: die Brüder, die Geschichte, die Herkunft. Manchmal kommt heraus, dass das Mädchen zwar von Gewalt bedroht ist, aber nicht von Mord. Und man muss die Behörden schulen: Wenn ein Gewaltopfer an einem geheimen Ort lebt, darf es nicht vorkommen, dass die Kindergeldstelle dem Vater die Adresse mitteilt. Leider helfen manchmal Migranten in Behörden den Verwandten aus, die ihre Tochter suchen. Sie machen sich nicht klar, dass sie die Tochter damit ausliefern.

Sie sind in unzähligen Schulen unterwegs gewesen, um mit Jugendlichen diese Themen zu besprechen. Wie gehen Sie vor?

Es gibt Lehrer, die einen Verdacht äußern: Diese Schülerin ist wochenlang krank, hat Kopf- oder Bauchschmerzen. Sie wissen nicht, wie sie diese Themen ansprechen können. Dann gehe ich hin und beginne ein Gespräch mit der Klasse. Von Anfang an bringe ich meine Lebensgeschichte ein: die Drohung mit der Zwangsheirat, die Gewalt, den Versuch, mich zu ermorden. Und wie ich mich gewehrt habe.

Was ist mit Ihnen geschehen?

Alle meine drei Brüder waren aufgefordert worden, mich umzubringen. Zwei haben gesagt: Was wollt ihr, ich bringe doch meine Schwester nicht um. Das ist meine Liebe! Einer hat gesagt: Ich mach es. Er war nicht so stark wie die anderen, er hatte Probleme. Der Mord war eine Möglichkeit, Anerkennung zu bekommen.

Was hat das für Sie bedeutet?

Ich hatte schon vorher viel Gewalt erfahren in meiner Familie. Schläge, ich war auch im Krankenhaus. Ich habe mich nie gewehrt, ich war immer still. Aber als der Mordaufruf kam, da war es so, als laufe in mir etwas über, das Fass lief über. Ich habe Sie bedroht: dass ich sie zerstören werde. Ich hätte sie angezeigt, ich hätte dafür gesorgt, dass sie Deutschland verlassen müssen. Ich hätte alles getan. Da haben sie begriffen: Ich bin kein stilles Opfer mehr. Nach vielen vielen Jahren haben sie mich für tot erklärt. Sie haben gesagt, wir haben keine Tochter mehr. Das hätte mein Bruder übrigens auch tun können, als sie sagten, er solle mich umbringen. Schwester? Ich habe keine.

Zurück zu den Schulen. Wie gelingt es Ihnen, den persönlichen Kontakt zu den Schülerinnen herzustellen?

Indem ich nach meinen Auftritten noch bleibe. Ich sage: "Und wenn mich später jemand noch etwas Persönliches fragen will, ich bin noch eine Weile da. Und hier ist meine Notrufnummer." Dann kommen Schüler zu mir und sagen: Ich habe eine Freundin, die soll auch verheiratet werden. Die ist erst 14. Oder: Mein Cousin soll auch verheiratet werden. Was soll er tun? Ich sage ihnen, zu welchen Beratungsstellen sie gehen können. Und ich sage, wo sie lieber nicht hingehen sollen, weil dort eventuell Migranten sitzen, die sagen: Mach deiner Familie keinen Kummer. Geh wieder zurück.

Sprechen Sie auch mit Eltern?

Ja. Erst erzählen die Schüler ihnen von meinem Besuch. Die erste Frage ist dann immer: Macht sie die Religion schlecht? Aber das mache ich nicht. Im Gegenteil, ich korrigiere ihr Islambild: Zwangsheirat zum Beispiel gibt es nicht im Koran. Oft sagen die Kinder zu ihrer Mutter: Mama, rede mal mit der Frau. Zum Beispiel wenn die Mutter selbst geschlagen wird. Oder sie sagen: Diese Frau kann dir erklären, warum es für mich schwer ist, verheiratet zu werden. Ich hätte neulich in der Woche in einer Berliner Schule jeden Tag zu zwei, drei Familien gehen können. So groß ist der Bedarf.

Heißt das, in jeder Klasse gibt es zwei bis drei SchülerInnen, die solche Probleme haben?

Eher mehr. Es trauen sich nicht alle, mich direkt anzusprechen. In Berlin gibt es so viele Mädchen, die mit 14, 15 schon verheiratet sind. Viele von ihnen leiden unter Depressionen.

Sie wurden von Imamen verheiratet, obwohl sie das deutsche Heiratsalter noch nicht erreicht haben?

Ja. All diese religiösen Vereine, von Ditib bis Milli Görüs, behaupten in der Islamkonferenz, in ihren Moscheen käme so etwas nicht vor. Woher kommen denn die ganzen verheirateten Mädchen? Die Migranten tun nicht genug, um solche Praktiken zu beenden. Zu viele sagen: Meine Tochter darf nicht so eine Schlampe werden wie die Deutschen. Die Migranten, die westlich orientiert sind, stehen daneben und tun nichts.

Aber Sie tun doch etwas, und Necla Kelek und Seyran Ates und all die Politikerinnen …

Wir sind ein paar Ausnahmemigrantinnen. Uns unterstellt die Community, wir wollten damit Karriere machen, dass wir unsere Leute schlechtmachen. Wir brauchen auch die ganz normalen Menschen, Arbeiterinnen und Putzfrauen, die sagen: Uns reicht es. Wir wollen das nicht mehr. Wir brauchen eine migrantische Frauenbewegung.

Wie gut kommen die Lehrer an die Schüler heran, wenn nicht Fatma Bläser kommt?

Die Lehrer könnten auch von ihrer Geschichte ausgehen, also etwa einer Oma, die vielleicht noch wegen einer Schwangerschaft heiraten musste. Dann kann man eine emotionale Brücke bauen. Es wäre wichtig, dass Lehrer sich mit der Religion beschäftigen und sagen: Ich bin zwar keine Muslimin, aber ich kenne deine Bibel. Was du da erzählst, steht da nicht drin.

Sie fordern eine ganze Menge von den Lehrern.

Ja. Wir brauchen mehr Sozialarbeiter an den Schulen. Ich wäre froh, wenn wir nicht so viel Geld für interkulturelle Grillfeste ausgeben würden. Oder für noch einen Dialog mit einem Imam, der sowieso nur sagt, dass alles schön ist. Und dafür mehr in die direkte Sozialarbeit stecken würden.

Wie sprechen Sie mit den Eltern?

Es sind meistens die Mütter. Sie sagen zu mir: Mein Herz brennt. Weil sie selbst Gewalt erleben. Oder weil sie merken, dass sie ihren Töchtern wehtun, wenn sie sie verheiraten. Ich sage zu ihnen: Lass nicht zu, dass dein Herz brennt. Du kannst etwas tun. Manchmal kann man Brüder gewinnen. Und dann sind es plötzlich mehrere Menschen in der Familie, die gegen eine Zwangsheirat sind. Oft kann man die dann passiv herauszögern, bis sich die Situation wieder ändert. Man muss nicht immer mit dem Hammer arbeiten.

Sie sagten, das entscheidende Problem seien die Jungen.

Ja. Man muss mit den Jungen in der Schule über ihr Männerbild sprechen. Und die Imame müssen in ihren Predigten sagen, dass gewalttätige Männer keine gläubigen Menschen sind. Davon sind wir leider weit entfernt. Die deutschen Lehrer sind da viel zu zögerlich.

Die deutschen Lehrer?

Ja. Viele Migranten sagen: Ihr habt die Juden umgebracht, ihr könnt uns gar nichts sagen. Viele Lehrer haben Angst, als Rassisten zu gelten, wenn sie Migranten kritisieren.

Die Multikultiträumer, vor denen Seyran Ates warnt?

Ich würde sie nicht so nennen. Ich habe eher den Eindruck, die haben einen Schuldkomplex und deshalb übertriebene Angst, als Rassisten zu gelten.

Es gibt junge Migranten, die im Internet den Mord an Morsal O. verteidigen. Sie habe sich wie ein Hure verhalten. Begegnet Ihnen so etwas auch in den Schulen?

Ja. Ich höre immer diese Drohungen: Die kann sich so nicht benehmen, ich bring die um.

Was tun Sie dann?

Ich spiele mit denen. Was wäre, wenn du eine Frau wärest? Wenn man dich prügelt, beleidigt und beschimpft? Und ich wäre der Mann und sagte: Ich kann dich kontrollieren, prügeln und beleidigen. Nö, sagen die, das lasse ich mir nicht gefallen. Ach, sage ich dann, und deine Schwester, die soll sich das gefallen lassen? Dann sagen sie: Gott hat sie eben so gemacht. Und dann sage ich: Nein, das hat Gott nicht so eingerichtet - und dann geht es um den Koran und was dort wirklich steht. Ich verbünde mich mit den Migrantenjungen, die die Kontrolle der Schwestern falsch finden. Die gibt es ja auch immer.

Es gibt mittlerweile eine Menge Literatur über das Leid von Migrantinnen. Wie wirkt die auf die Schüler?

Sie unterscheiden sehr genau: Wenn Bücher die Migranten oder den Islam pauschal angreifen, dann gibt es einen Abwehrreflex. Necla Kelek etwa ist nicht sehr beliebt, weil viele das Gefühl haben, sie ist noch deutscher geworden als die Deutschen. Sie wolle keine mehr "von uns" sein. Ich selbst komme an diesen Reflexen nur vorbei, indem ich meine persönliche Geschichte erzähle. Dann kommen Schülerinnen und sagen: Ja, Sie erzählen da auch mein Leben.

Aber in Ihren Erzählungen kommt die anatolische Kultur auch nicht so gut weg, oder?

Das stimmt nicht. Die anatolische Kultur kann sehr schön sein. Ich liebe vieles daran. Aber es gibt einige schädliche Traditionen, die tun uns nicht gut. Das ist die Unterscheidung. Man muss nicht seine Kultur und seine Religion wegwerfen, nur weil es einige schlechte Traditionen gibt. Das verstehen Schüler sehr gut.

Viele "Urdeutsche" nehmen diese feine Unterscheidung auch nicht vor. Da wird ja doch oft pauschal über "die Kultur" oder "den Islam" gesprochen.

Ja, das sagen die Schüler auch immer. Aber solche Vorurteile fallen doch nicht vom Himmel. Das machen die Türken in der Türkei doch genauso. Wenn sich zehn Deutsche in Bodrum danebenbenehmen, dann entwickeln die Türken eben Vorurteile gegen die "ehrlosen" deutschen Schlampen. Darüber kann man nun beleidigt sein - oder mit gutem Beispiel zeigen, dass man selbst nicht so ist.

Arbeiten Sie mit Moscheen zusammen?

Mit sehr wenigen. Viele Imame möchten die Probleme der Frauen nicht sehen. Sie sind oft noch sehr patriarchalisch eingestellt. Wenn das nicht so wäre, dann hätten wir jetzt keinen "Burkini" für Mädchen, die schwimmen wollen. Das finde ich grausam. Ich habe es so oft in Predigten in Moscheen gehört: Passt auf, dass eure Töchter nicht so werden wie die Deutschen.

Nun gibt es ja auch muslimische Feministinnen, die ein Kopftuch tragen - und trotzdem alle Rechte für Frauen wollen. Ist das eine migrantische Frauenbewegung?

Das ist schwierig. Sie sagen, die Frauen haben ganz viele Rechte. Aber sie leben sehr traditionell. Sie tragen Kopftücher. Und sie tun damit genau das, was die Patriarchen wollen. Wenn sie nun plötzlich sagen würden, ich trage meinen Glauben im Herzen und nicht mehr auf dem Kopf, und ich gehe in die Disco, dann würden sie ganz schnell Probleme bekommen. Da stimmt etwas nicht, finde ich.

Kürzlich fuhr eine türkische Hochzeitsgesellschaft mit viel Gehupe an mir vorbei, die Braut trug Kopftuch und Schleier. Ich dachte reflexhaft an Zwangsheirat. Ist dieser Effekt gut?

Tja, das ist die Situation. Wenn ich auf Hochzeiten gehe, beobachte ich auch erst mal, ob die Braut wohl glücklich ist. Die Frauen treffen sich auf der Toilette, und man spricht darüber, wer wohl die Nächste ist, die glücklich verheiratet sein wird. Und dann sagt eine: "Von wegen ,glücklich'. Mich hat es auch erwischt, ich musste auch heiraten." Und die Nächste: "Ach, tu nicht so. Ich wurde auch verheiratet, so schlimm ist das auch nicht." Man kann eben nicht davon ausgehen, dass alle Hochzeiten glücklich sind.

Der Mörder Nezir Bulut, der über seine Tat ein Buch schrieb, wollte über den Mord die Achtung seiner Familie zurückgewinnen. Er galt ihnen als "verwestlicht" und wollte die Geborgenheit zurück. Als gebe es nur das eine oder das andere.

Das erscheint diesen Männern so. Aber es gibt immer das Dazwischen. Dass solche Männer sich als Opfer empfinden, kann ich schwer nachvollziehen. Er kann weggehen, niemand bedroht sein Leben.

Er fühlte sich dennoch unter Druck.

Er fühlte sich unter Druck, weil er die ganze Anerkennung als traditioneller Mann haben wollte. Er hatte Schuldgefühle, weil er sich von der Familie entfernt hat. Er hätte seinen Eltern sagen können: Ich liebe euch, aber ich werde diese Tradition nicht fortführen. Wollt ihr mich so haben oder nicht? Diesem Jungen hätte man einen anderen Weg zeigen können.

Frau Bläser, Sie selbst haben sich damals aus Ihrer Situation befreit. Warum hatten Sie wohl weniger Angst als andere?

Das weiß ich nicht. Aber ich hatte schon ganz früh den Gedanken: Wenn ich Angst habe, dann ist das etwas, was mich beherrscht. Das lasse ich nicht zu. Das sage ich auch allen Frauen, die mit mir sprechen: Die Angst, die kann dir dir Füße abschnüren, die Hände abschnüren, deinen Mund zuschnüren. Lass es nicht zu!

Sie sind auch von außen bedroht worden.

Ja, mein Auto wurde manipuliert, die Bremsen. Die Kurdische Gemeinde hat vor einigen Jahren für 10.000 Euro einen Mörder aus der Türkei bestellt. Das flog auf. Und ich kann zurückdrohen: Ich weiß viel über die Community, ich kann alles öffentlich machen.

Haben Sie den Eindruck, dass Lehrer und Behörden auch Angst haben, bedroht zu werden?

Ja, selbstverständlich. Da sind manchmal plötzlich die Autos von Lehrern zerkratzt. Oder die Leute von den Moscheen kommen und sagen dem Direktor: Diese Frau Bläser ist schädlich für unser Zusammenleben. Holen sie die nicht mehr. Zum Glück sagen die meisten dann: Hier sind wir in meinem Land und in meiner Schule. Das lassen Sie mal meine Sorge sein.

Wie stehen Sie Ihrer Familie heute gegenüber?

Ich kenne die Traditionen, vieles gefällt mir auch. Aber wie sie leben und wie ich lebe, das ist wie Tag und Nacht. Sie haben mir früher immer das Gefühl gegeben, dass ich sie brauche. Wenn sie mich nicht mehr wollen, bin ich ein verlorener Mensch. Ich habe denen bewiesen: Ich brauche sie überhaupt nicht. Ich bin nicht verloren gegangen, sondern ich habe mich gefunden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.