Flüchtlinge im eigenen Land

Mit ihrer strikten Neutralität versuchen die Bewohner von La Unión, nicht zwischen kolumbianischer Armee, Paramilitärs und Multis zerrieben zu werden

■ Kolumbien zählt rund 42 Millionen Einwohner. Nach Schätzungen sind zwischen 3 und 4 Millionen auf der Flucht vor den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der staatlichen Armee, paramilitärischen Gruppen und den Guerillaorganisationen Farc und ELN. Fast jeder zehnte Kolumbianer ist ein Flüchtling im eigenen Land. Die Grenze zwischen Flucht und Vertreibung ist jedoch nicht einfach zu ziehen. Gewaltsame Vertreibungen unter dem Deckmantel von bewaffneten Konflikten sind an der Tagesordnung. Vor allem in den Regionen, in denen wertvolle Bodenschätze lagern oder exportorientierte Agrarunternehmen nach fruchtbaren Anbauflächen gieren. (jv)

AUS BOGOTÁ JÜRGEN VOGT

Die Schilder am Dorfeingang sprechen für sich: „Waffen verboten.“ Der kleine Weiler La Unión in den Bergen der nordkolumbianischen Provinz Antioquia widersetzt sich dem Krieg und der Vertreibung. Im Kampf zwischen Regierung, Paramilitärs und Guerilla gehören Waffengewalt und Tod zum Alltag. Um dem zu entkommen, sind nach UN-Schätzungen drei Millionen Kolumbianer auf der Flucht im eigenen Land.

Die Sonne durchbricht die Regenwolken und trocknet die Dächer der Hütten entlang der kleinen Dorfstraße. Der Schauer wandelt sich in Schwüle. Kinder, Hühner und Schweine lärmen durch den Ort. Die Erwachsenen gehen auf ihre Felder. Mais und Bohnen werden dort angebaut, aber auch Bananen, Kakaobohnen, Zuckerrohr.

Mit der Machete trennt Marco Pérez die Bananenstaude ab. „Viele glauben ja, Bananen wachsen auf Bäumen“, lacht er. Die Stauden hatte er vor neun Monaten gepflanzt, jetzt hängen die Früchte grün nach unten. Drei bis vier Familien teilen sich die Arbeit und die Erträge.

Alle Gruppen vertreten

48 Familien leben in dem kleinen Weiler La Unión, das sind rund 180 Menschen. Nur ein Pfad führt aus der Ebene in den hoch gelegenen Ort. Die 24 Kinder gehen in die Schule, die von offizieller staatlicher Seite betrieben wird. Das ist ihr Recht, bedeutet aber nicht, dass La Unión offiziell als Ort anerkannt ist. Denn der Staat ist traditionell abwesend. Außer in Form von bewaffneten Soldaten. Mit den Militärs, den Paramilitärs und der Guerilla sind alle bewaffneten Gruppen in der Region vertreten. Dazu kommt die normale Gewaltkriminalität organisierter Banden.

Doña Brigida kam mit 15 Jahren in die Region. Damals gab es noch keine Paramilitärs. Aber die Bananenmultis hatten schon mit der Plantagenproduktion begonnen. „Also habe ich dort angefangen zu arbeiten.“ Die Arbeitszeit war damals von 3 Uhr nachts bis 23 Uhr abends. „Aber sie bezahlten uns nur von 7 Uhr bis 17 Uhr. Wir wussten, dass wir ausgebeutet wurden.“ Mit anderen Frauen gründete sie eine Gewerkschaft und verlor daraufhin ihren Job.

In den 80er- und 90er-Jahren verschärften sich die Repressionen gegen die linken Bewegungen. Die Grenze zwischen den dafür verantwortlichen staatlichen Institutionen und den Bananenmultis verwischte sich, paramilitärische Gruppen entstanden. Einschüchterungen, Drohungen und Morde nahmen zu. Doña Brigida kümmerte sich um die Waisenkinder. 87 Kinder betreute sie, als sie selbst vor den Paramilitärs fliehen musste.

Mitte der 90er-Jahre begannen die Vertreibungen. Die Bewohner von La Unión wurden als Rebellen oder Kollaborateure der Guerilla denunziert. Dann mussten sie aus den Weilern vor den gewaltsamen Übergriffen fliehen. Im März 1997 gründeten sie die Comunidad de Paz San José de Apartadó. Ein Jahr später kehrten sie in ihre kleinen Weiler zurück.

„Das Leben im Konfliktgebiet ist schwierig, weil alle Seiten dich töten wollen. Aber wenn wir hier nicht für unser Land kämpfen, warum sollen wir anderswo kämpfen, wo wir nichts haben?“, fragt Marta Riva vom Rat der Comunidad. In den ersten vier Jahren flohen sie bei akuten Bedrohungen in die umliegenden Berge, mussten ihre Hütten allein lassen. Wenn die Paras weg waren, kamen sie zurück.

Auch Doña Brigida nahm 1997 an der Gründung der Comunidad teil. „Wir hatten große Hoffnungen auf eine Veränderung.“ Doch die Macht der Paramilitärs wurde immer größer, ihre Unterstützung durch die Bananenmultis immer offener. 2003 bestätigte ein Gericht in den USA, dass der Bananenmulti Chiquita, früher bekannt als United Fruit Company, die Paramilitärs jahrelang mit Waffen versorgte. Chiquita hat sich aus der Region zurückgezogen, andere Multis haben die Bananenplantagen übernommen, darunter Del Monte.

Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR schätzt, dass drei Millionen Kolumbianer Opfer von gewaltsamer Vertreibung und damit Flüchtlinge im eigenen Land sind. Ganze Dörfer und Familien werden aus dem ländlichen Raum in die Elendsviertel am Rand der großen Städte vertrieben. Seit einigen Jahren nimmt selbst innerhalb der urbanen Zentren die gewaltsame Vertreibung durch Bandenkriminalität und Polizeigewalt zu.

Nach den Angaben der kolumbianischen Regierung sank die Zahl der Vertriebenen von Januar bis November 2009 auf 107.800, während im selben Zeitraum 2008 knapp über 285.000 Menschen fliehen mussten. Die kolumbianische Menschenrechtsorganisation Codhes kritisiert, die Regierung betreibe mit ihren Zahlen Schönfärberei. Codhes schätzt die Zahl der durch Gewalt Vertriebenen für das Jahr 2009 auf 300.000, für das Jahr 2008 auf 380.000. 2008 war damit das Jahr mit der höchsten Zahl von Vertriebenen nach dem traurigen Rekord von 2002, als 412.000 Menschen flüchten mussten.

Für Jorge Rojas, Direktor von Codhes, ist damit ein signifikanter Rückgang der Vertreibungen nicht in Sicht. Die Hauptgründe sieht Rojas im anhaltenden bewaffneten Konflikt zwischen der Farc-Guerilla und den Streitkräften im Rahmen der Offensive, die die Regierung vor allem im Süden des Landes angeordnet hat. Zudem hat sich eine neue Generation von paramilitärischen Gruppen gebildet, die in mindesten 16 Provinzen des Landes operieren. Diese Gruppen haben kein Interesse mehr an politischem Einfluss und konzentrieren sich auf die Sicherung der Beute an Ländereien aus den früheren Gewalt- und Vertreibungsaktionen.

2007 wurde die Gemeinschaft mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet

Die Grundregel der Cominidad de Paz besteht in absoluter Neutralität und der Verweigerung jeglicher Zusammenarbeit, egal mit welcher Partei des Konflikts. Seit einem internen Streit mit tödlichem Ausgang ist auch Alkohol verboten. „Die Neutralität ist unsere größte Waffe“, sagt José Valdano. Bewaffnete Soldaten werden umgehend aufgefordert, das Gemeinschaftsgebiet zu verlassen. In dieser Form widersetzten sich in Kolumbien Gewaltvertriebene erstmals der Vertreibung. In Kolumbien gibt es heute rund 50 solcher Friedensgemeinschaften, die in San José gilt als Modell. 2007 wurde die Gemeinschaft mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.

In Kolumbien selbst haben sie keine Unterstützung. Schon früh haben sie deshalb den Wert des Schutzes durch die internationale Öffentlichkeit erkannt. Seit 1998 wird die Gemeinschaft von Peace Brigades International (pbi) begleitet. Die Organisation ist seit 15 Jahren in Kolumbien präsent, derzeit mit rund 60 europäischen sowie nord- und südamerikanischen Freiwilligen. Die freiwilligen Mitglieder schützen gefährdete Menschen und Gemeinschaften durch ihre bloße Anwesenheit und garantieren, dass auch der kleinste Vorfall international bekannt wird. „Ohne die Begleitung der internationalen Beobachter wären wir in noch viel größerer Gefahr“, ist José Valdano überzeugt.

Vor zehn Jahre hatte die Gemeinschaft den Kontakt mit Banafair aufgenommen. Die kleine deutsche Importfirma unterstützt den fairen Handel und bringt Bananen aus ökologischem Anbau auf den deutschen Markt. „Die Verhandlungen mit den Deutschen waren nicht einfach“, erinnert sich Marco Pérez. Viel Papierkram und strenge Auflagen mussten sie erfüllen. Einige Jahre hat es gedauert, bis die erste Lieferung nach Deutschland verschifft werden konnte. Doch die Beharrlichkeit hat sich gelohnt. „Nicht nur finanziell hilft uns der Verkauf nach Deutschland, auch diese internationale Verbindung schützt uns“, so Marco Pérez.

Vor aller Augen erschossen

Absoluten Schutz garantiert das jedoch nicht. Am 8. Juli 2000 kamen die Paramilitärs und ließen die Dorfbevölkerung antreten. Der Rat der Comunidad hatte gerade seine Sitzung beendet. Sie wählten sechs Personen aus und erschossen sie vor aller Augen. 2005 gab es ein weiteres Massaker, bei dem acht Menschen ermordet wurden. Im Dezember 2005, einen Tag nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, wurde die Tochter von Doña Brigida getötet. Bis heute sind die Mörder nicht bekannt, niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. In den 13 Jahren ihres zivilen Widerstands wurden mehr als 100 Menschen in der Region von Paramilitärs und den regulären Streitkräften umgebracht.

Jetzt will die Regierung eine Landstraße bauen. Die Planungen sind fast abgeschlossen. Die Straße würde direkt am Weiler vorbeiführen und San José de Apartadó mit Giralta in der Provinz Cordoba verbinden. Nach offiziellen Angaben bewegen sich die 5. und 18. Fronteinheit der Farc in dieser Gegend. Die Regierung argumentiert deshalb, mit dieser Landstraße militärische Kontrolle in der Region zu gewinnen. „Das wird harte Auseinandersetzungen geben“, ist sich José Valdano sicher. „Und wir laufen dabei erhebliche Gefahr, wieder vertrieben zu werden.“