„Es gab ein heroisiertes Bild des Kindes“

ERZIEHUNG Die Pädophilen verstanden sich als Teil der Schwulenbewegung und wurden von vielen entsprechend akzeptiert, erklärt der Historiker Sven Reichardt

?taz: Herr Reichardt, warum war die Pädophilie im Alternativmilieu der 1970er- und 80er-Jahre anschlussfähig?

Sven Reichardt: Weil sich die Pädophilen als Teil der Homosexuellenbewegung verstanden haben und auch so akzeptiert wurden. In der Nürnberger Schwulenzeitung Rosa Flieder etwa erschienen zwischen 1979 und 1989 41 Texte zur Pädophilie. Eine Verbindungslinie war der Kampf gegen das für Homosexuelle höher angesetzte Schutzalter. Es ging also auch um Gleichberechtigung für Homosexuelle. Klar ist, dass diese zeitweise Allianz der pädophilen Bewegung genutzt und der Schwulenbewegung geschadet hat.

Also hatten die Pädophilen mit ihrer Strategie Erfolg?

Ja, zeitweise. Denn im alternativen Milieu war pädophile Sexualität keineswegs geächtet. Es gab aber auch harte Debatten, etwa als Feministinnen die Redaktion des Blatts besetzten, in dem mit Peter Schult ein pädophiler Anarchist arbeitete. Viele Linksalternative sahen in den Pädophilen eine verkannte Minderheit, die ein Recht auf Befreiung von Strafverfolgung und gesellschaftlicher Ächtung hat. Diese Phase reichte etwa von 1975 bis 1985. Danach kam es zu einem Bruch, weil sich die Grünen in Nordrhein-Westfalen unter politischem Druck von pädophilen Positionen distanzierten.

Warum gab es diese Offenheit im alternativen Milieu gegenüber den Pädophilen?

Weil sie auch gegen Staat, Justiz und bürgerliche Konventionen rebellierten. Außerdem ging es um befreite Sexualität – das war ein Kernthema der Alternativen und der 68er.

Es gab das verbindende Gefühl: Sex ist gut, Tabus sind schlecht.

Ja.

Nach 1968 entstanden auch ganze andere, neue Erziehungsideale. Welche Rolle spielte das Bild des Kindes dabei?

Das Kind verkörperte eine Utopie von Freiheit, von Bedürfnisorientierung und Offenheit. Das Kind hatte das, was den 68er-Erwachsenen fehlte, die sich durch ihre autoritäre Erziehung, durch Gefühlskälte, Disziplinierungen und Gewalt als verbogen und entfremdet empfanden. Kinder, die eigenständig und selbstreguliert aufwachsen sollten, erschienen ihnen als Versprechen.

Kinder dienten also als Projektionsfläche für Erwachsene, die auf diese Weise versuchten, sich vom Faschismus ihrer Eltern zu reinigen?

Ja, das Bild des Kindes spiegelte die Fantasie der Erwachsenen. Damit dreht sich auch das Verhältnis von Erziehern und Erzogenen teilweise um: Eigentlich sollen die Erwachsenen etwas von den idealisierten Kindern lernen. So produktiv viele pädagogische Ansätze damals waren – es gab ein heroisiertes Bild des Kindes.

Besteht eine Verbindung zwischen dieser Projektion auf das Kind und der teilweisen Akzeptanz von Pädophilen?

Das ist kompliziert. Nach 1968 wurde in der Kinderladenbewegung die kindliche Sexualität entdeckt, die vorher ja schlicht negiert wurde. Dort entstand die Idee, dass sich Erwachsene den sexuellen Wünschen der Kinder nicht entziehen sollten. Es gibt in den Erfahrungsberichten der Kinderladenbewegung kaum Stellungnahmen zur Pädophilie. Es wurden allerdings schon Ende der 1960er-Jahre sehr offen sexuelle Erlebnisse mit Kindern, die neugierig sind, diskutiert.

Daniel Cohn-Bendit hat 1975 eine – wie er sagt: fiktive – Szene in einem Kinderladen beschrieben, in der ihm „Kinder den Hosenlatz geöffnet“ haben. Er schreibt, dass ihn „ihr Wunsch vor Probleme stellte“ und er versuchte, die Kinder miteinander spielen zu lassen. Ist das eine typische Schilderung?

Ja, die Erwachsenen schildern sich in den Erfahrungsberichten aus Kinderläden meist als überfordert. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Oft trauten sie sich nicht, eine Grenze gegen Annäherungen der Kinder zu ziehen – weil man ja nichts tabuisieren wollte. Interessant ist, dass das Bewusstsein, dass die Sexualität von Kindern und Erwachsenen grundverschieden ist, eher im Hintergrund blieb. Im Vordergrund stand die Idee, dass jede Sexualität befreit werden muss.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE