Die pädagogische Dramaturgin

Sie gab der Unübersichtlichkeit des Lebens gegenüber der Abstraktion den Vortritt. Das machte sie innerhalb der 68er-Generation zu etwas Besonderem

Man erschreckte sie oft ein bisschen, wenn man sie zufällig auf der Straße traf, und man traf sie häufiger am frühen Abend in der Nähe des Mehringdamms in Berlin-Kreuzberg, wo sie wohnte. Der Hund musste ja noch einmal raus. „Kinder sind ein guter Hundeersatz“, lautete einer ihrer Bonmots, aber sie selbst hat sich an Hunde gehalten, denen sie auch ein Buch widmete: „Der Stadthund“. Getragen wird es von einem Einspruch gegen die Mainstreammeinung, dass Hunde „eigentlich“ aufs Land gehören, der sich nicht einfach aus Widerspruchsgeist speist, sondern aus der Erfahrung eines gelingenden Lebens mit Hund mitten in ihrem Kreuzberger Soziotop. Die polemische Energie, die Katharina Rutschky entwickeln konnte, ist bekannt; sie speist sich aber, glaube ich, aus etwas Positivem: Im Zweifel schlug sich Katharina Rutschky auf die Seite der wuseligen Konkretheit des gelebten Lebens, um sie gegen abstrakte Ordnungen zu verteidigen; innerhalb der 68er-Generation machte sie das schon zu etwas Besonderem.

Das kleine Erschrecken bei den Begegnungen rührte daher, dass sie zu den Menschen gehörte, die einen erst erkennen, wenn man direkt vor ihnen steht. Aber dann gab es sofort ein ruckartiges Wahrnehmen, dem ein leicht kehliges Lachen folgte, und meistens sah man sich dann mit einem freundlichen Tadel konfrontiert, gelegentlich auch mit einem ironisch abgefederten Lob: Was Sie da wieder geschrieben haben, also, ich muss Ihnen sagen … Man war gleich in ein pädagogisches Minidrama verstrickt.

Ich mochte diese Begegnungen. Ein bisschen hatten sie etwas von einem Woody-Allen-Film. Vor allem aber vermittelten sie den Eindruck, Zeuge einer unaufgesetzten urbanen Intellektualität zu sein.

Es ist sehr traurig, dass sie nie wieder stattfinden werden.

DIRK KNIPPHALS