Israelischer Künstler Avner Gavrieli: Im Vaterland

Viel hat der Künstler Avner Gavrieli nicht mitgenommen nach Berlin, in die Geburtsstadt seines Vaters. Ein bisschen Kleidung und den Satz: "Du Arschloch, du!"

"Mein Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass ich in Berlin bin", sagt Avner Gavrieli. Bild: Wolfgang Borrs

BERLIN taz | Neulich war Avner Gavrieli auf dem Bürgeramt. Er holte sich seinen neuen Personalausweis ab. Die deutsche Staatsbürgerschaft zählt zu dem wenigen, das der Vater dem Sohn vermacht hat. Der Beamte fragte interessiert, was Avrieli in der Sprache seiner Vorfahren zu sagen weiß. Gavrieli antwortete: "Du Arschloch, du!" Der Beamte lachte und sagte: Damit werde er sicher gut in Berlin zurechtkommen.

Auf seine Reise nach Deutschland hat Gavrieli nicht viel mitgenommen. Etwas Kleidung, vielleicht zu wenig für den harten Berliner Winter, von dem er jetzt so viel hört. Dazu den Nachweis seiner deutschen Herkunft und etwas Krimskrams. 61 Jahre Leben passten in "half-past one suitcases", wie er im holprigen Englisch sagt: in "halb zwei Koffer". Nun ist Gavrieli zurück in der alten Heimat seines Vaters. Er weiß nur noch nicht genau, was das bedeutet.

Ein Anruf einer alten Freundin aus Deutschland hat ihn hierher geführt: in die Galerie PremArts in Berlin-Kreuzberg. Sie wolle eine Ausstellung seiner jüngsten Bilder organisieren, sagte sie ihm am Telefon. Ob er dazu Lust habe? Als er aufgelegt hatte, begann Gavrieli sofort zu packen. Ihn hielt nichts in Israel. Obwohl er dort 1950 geboren wurde. Obwohl er die meiste Zeit seines Lebens dort gelebt hat. Und obwohl seine künstlerische Arbeit um den Nahostkonflikt kreist. Vielleicht ist er auch gerade deswegen nach Deutschland gekommen.

Gavrieli stellt einen Biertisch und eine Bank auf den Gehsteig vor der Galerie. Das Wetter kann sich nicht entscheiden, ob es noch Spätsommer ist oder bereits Frühherbst. Auf den ersten Blick sieht Gavrieli recht jung aus: mit der grauen Baseballjacke und der schwarzen Wollmütze. Wären da nicht die vielen grauen Haare, die tiefen Falten und der leicht gebeugte Gang. Gavrieli wirkt sehr jung und zugleich sehr alt. Er behält die Mütze auf, es ist kälter hier als daheim in Chadera an der Mittelmeerküste. Aber was heißt das schon: daheim?

Neuer Anfang

Die deutschen Wortbrocken sind das Erbe seines Vaters. Kurt Glasberg wurde 1913 in Berlin geboren. Zweiundzwanzig Jahre später, zu Beginn der Judenverfolgungen, emigrierte der junge Mann nach Palästina. Der wortkarge Sozialist wollte einen neuen Anfang im Gelobten Land. Er heiratete noch auf der Überfahrt, änderte seinen Nachnamen von Glasberg zu Gavrieli und seinen Vornamen zu Arieh.

Berlin war einst eine von jüdischen Einwohnern geprägte Stadt, und sie wird es erneut. 1933 lebten hier rund 160.000 Juden: fast ein Drittel der jüdischen Bevölkerung im Reich. Bei Kriegsende waren es - nach Emigration, Verschleppung oder Ermordung - nur noch wenige tausend. Seit 1990 wird die Stadt zum Anziehungspunkt für jüdische Immigranten, vor allem aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Zugleich ziehen immer mehr jüdische Künstler her. (MLO)

Gavrielis Vater ging aus Berlin fort und wollte vergessen.

Nach seiner Flucht aus Deutschland fand er ein neues Heim im Kibbuz Giv'at Brenner. Ein neuer, von der Vergangenheit unbelasteter Mensch sollte hier heranwachsen. Die Kollektivsiedlung entwickelte sich zur größten Israels: eine sozialistische Kommune, in der Kinder mit Gleichaltrigen lebten. 1950 wurde Avner in diese Welt hineingeboren. Seinen Vater und seine Mutter sah er nur nachmittags, für zwei Stunden. Kinderaufzucht war Sache der Gemeinschaft.

"Wir durften nicht bei unseren Eltern schlafen", sagt Gavrieli. Dabei verschränkt er die Arme, als hielte er einen Säugling. Dann schlingt er die Arme noch enger, er umarmt sich jetzt selbst. Er gibt seine Sehnsucht der Lächerlichkeit preis. Gavrieli lächelt und sagt: "Es ist besser zu lachen, als zu weinen."

So gut wie nie habe der Vater mit seinen Kindern gesprochen. Nur wenn der Vater, der zeitlebens in einer Autowerkstatt arbeitete, ihn schalt, hörte der Sohn ihn Deutsch reden: "Du Wasserkopf!", "Lass das, Kind!", "Du Arschloch, du!" Keine schönen Erinnerungen. Gavrieli zieht die Schultern hoch, als wolle er sagen: Was soll man machen. Aber er hat sich die Worte bis heute gemerkt.

Bis zu seinem Tod vor fast 20 Jahren erzählte der Vater dem Sohn so gut wie nichts über sein Leben in der ehemaligen Heimat. Die Mutter, eine gebürtige Polin, wusste auch nicht viel über die Jugend ihres Mannes. Heute, ein Dreivierteljahrhundert später, kehrt der Sohn zurück, um die Vergangenheit zu verstehen. Am Grab seiner Großmutter, 1928 beigesetzt auf dem riesigen jüdischen Friedhof im Stadtteil Weißensee, war er schon. Er weiß kaum etwas über diese Frau namens Isadore Lewin, woher auch. Die wenigen Informationen kann er nur bruchstückhaft zusammenfügen. Wie die Steinchen eines alten Mosaiks.

Viele israelische Künstler kommen nach Berlin

Gavrieli will in Berlin bleiben. In Israel lässt er wenig zurück. Seit Jahren ist er von seiner Frau geschieden, mit der er einige Jahre in Südamerika lebte. Er hat keine Kinder, der kommerzielle Erfolg als Künstler ist mäßig. Seine Mitbürger wollen nichts mehr hören vom Konflikt mit den Palästinensern, von Krieg und Leid. Sie wollen keine Bilder sehen, die auf den ersten Blick Landschaftsidyllen zeigen, die sich aber, sieht man genauer hin, als von ihren arabischen Bewohnern verlassene Häuser erweisen. In Gavrielis Bildern steckt hinter der Idylle immer der Schrecken. Gavrieli wollte die Gleichgültigkeit und Selbstbezogenheit vieler Israelis nicht mehr mitansehen müssen.

Gavrieli ist aus Israel fortgegangen und will vergessen.

Wie er ziehen viele israelische Künstler in die Hauptstadt jenes Landes, das ihre Vorfahren verfolgte und ermordete. Die meisten Kreativen sind in ihren Zwanzigern oder Dreißigern. Berlin ist für sie eine Stadt mit Zukunft. Gavrieli aber ist 61 Jahre, sein Vater entkam den Nazis durch Emigration, sein Großvater väterlicherseits starb 1943 in Theresienstadt.

Berlin ist auch für ihn, den säkularen Israeli, ein Quell der Kreativität. Vor allem aber ist es eine Stadt mit Vergangenheit. In seinen "halb zwei Koffern" dabei hat er Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein". Ein Buch über den Überlebenskampf verfolgter Juden und ihrer Beschützer in Nazideutschland. Der Titel der englischen Übersetzung: "Alone in Berlin".

Gavrieli steht von der Bank auf und geht in die Galerie. Poppiger Jazz füllt den kleinen Ausstellungsraum. "Ich habe die Musik extra zusammengestellt", sagt Gavrieli auf Englisch. An den Altbauwänden hängen die Bilder, die Gavrieli in den vergangenen eineinhalb Jahren gemalt hat. Sie sehen aus wie alte, erst jetzt wieder entdeckte Mosaike.

Szenen des israelischen Alltags

Manche von ihnen erinnern an Bruchstücke von Ausschmückungen antiker römischer Villen. Andere ähneln byzantinischen Ikonen. Aber statt Landschaftsidyllen zeigt Gavrieli schmucklose Wohnsilos, und statt entrückter Heiliger malt er Kampfpiloten in Uniform. Auf einem Mosaik grillen dickliche, selbstvergessene Menschen, und Heiligenscheine umringen ihre Köpfe. Es sind Szenen des israelischen Alltags.

Gavrieli stellt sie in einen neuen Zusammenhang: Die in Israel hoch angesehenen Kampfpiloten werden zu säkularen Heiligen. Ihre Gesichter, die in Fernsehberichten zu ihrem Schutz unkenntlich gemacht werden, hat auch Gavrieli gepixelt. Die grillenden Durchschnittsisraelis feiern die Freuden ihres Alltags. "Alles kommt zusammen in diesen Mosaiken", sagt Gavrieli. "Religion und Politik, Juden und Muslime." Das Nebeneinander von palästinensischem Elend und israelischer Gleichgültigkeit.

Die Idee dazu hatte er vor eineinhalb Jahren. Da besichtigte er die Grabeskirche in Jerusalem, eine der wichtigsten Stätten des Christentums. Er war schon mehrere Male hier gewesen. Aber erst jetzt, beim Anblick des Wandschmucks, hatte er einen Einfall: "Ich dachte: ,Heureka! Das ist es!'", sagt Gavrieli in seinem warmen, etwas schleppenden Englisch.

Historisierte Gegenwart

Seither malt er Mosaike. Aber warum genau? Gavrieli hebt die Hände, er ringt jetzt mit Worten: "Sie zeigen Ruinen, auf die eine oder andere Weise." Seine Bilder historisieren die Gegenwart. Das eröffnet einen anderen Blick auf uns selbst. "Diese Mosaike erinnern uns daran: Eines Tages werden wir alle Ruinen sein."

Ein paar Tage später, mittlerweile hat der Herbst den Spätsommer verdrängt. Gavrieli zieht wieder seine graue Baseballjacke an, setzt die wärmende Mütze auf und fährt los: vom armen Bezirk Neukölln in den wohlhabenden Stadtteil Charlottenburg. Hier, südlich der Einkaufsmeile Kurfürstendamm, muss sein Vater gewohnt haben, bevor er flüchtete: Uhlandstraße 49. Die Adresse hat Gavrielis Bruder ausfindig gemacht.

Was hielte sein Vater davon, wenn er erführe, dass der Sohn in Berlin nach seinen Spuren sucht? Gavrielis Augenbrauen heben sich wieder, er lächelt und sagt: "Er würde sich im Grab umdrehen." Und was würde der Sohn dem Vater sagen? Gavrieli schweigt ein paar Sekunden. "Dass ich ihn vermisse. Und ich würde ihm gern Fragen stellen, seine Geschichte erfahren."

Die Uhlandstraße 49 ist heute ein Hotel. Viel kühles Weiß an der Hausfassade, ein Gebäude, wie es so in jeder Stadt Europas stehen könnte. In der Lobby hängen poppige Ölgemälde knapp bekleideter Frauen. Gavrieli schweigt lieber über deren künstlerische Qualität. Stattdessen schlägt er der Frau am Empfang vor, doch besser seine Bilder auszustellen. Sie lehnt dankend ab. "Ich bin Scheitern gewohnt", sagt Gavrieli und zieht die Schultern hoch. Was soll man machen. Eines Tages werden wir alle Ruinen sein.

Gavrieli war schon mal hier. Vorm "Vaterhaus", wie er auf Deutsch sagt. Er war gerade in Berlin angekommen. "Und da habe ich ihn gesehen. Er rannte. Er rannte und bog um die Ecke." Gavrieli breitet die Arme aus, eine Passantin schaut irritiert herüber. "Ich rief ihm hinterher: ,Vater!'" Gavrieli bleibt ein paar Sekunden so stehen, dann dreht er sich um und sagt: "Aber er war fort."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.