In Schweden weltberühmt

TOMAS TRANSTRÖMER Der 80-jährige Tranströmer ist ein Psychologe und Poet der menschlichen Innenwelt. Er hatte so lange als Favorit für den Nobelpreis gegolten, dass am Ende niemand mehr mit ihm gerechnet hat

Auf Deutsch liegen von Tomas Tranströmer folgende Bände vor (Übersetzung: Hanns Grössel):

■ „Der wilde Marktplatz“. Hanser, 1985

■ „Der Mond und die Eiszeit“.

Piper, 1992

■ „Schmetterlingsmuseum. Fünf autobiographische Texte“.

Reclam 1992

■ „Für Lebende und Tote“.

Hanser 1993

■ „Sämtliche Gedichte“.

Hanser 1997

■ „Die Erinnerungen sehen mich“. Hanser, 1999

■ „Einunddreißig Gedichte“. Zweisprachige Ausgabe. Mit zwanzig Bildern von Christian Goldberg und einem Essay von Hans Jürgen Balmes. Ed. Goldberg, 2002

■ „Das große Rätsel. Gedichte“. Zweisprachige Ausgabe.

Hanser, 2005

■ „Jugendgedichte“. Zweisprachige Ausgabe. Kleinheinrich, 2011

AUS STOCKHOLM REINHARD WOLFF

Weil er „uns in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen“ weise, begründete die Schwedische Akademie, erhalte der Lyriker Tomas Tranströmer den diesjährigen Literaturnobelpreis. Die Auszeichnung des 80-jährigen Schwedens hat auch in Schweden selbst überrascht. Denn Tranströmer hatte zwar lange Zeit als Favorit gegolten, war aber so oft übergangen worden, dass kaum noch jemand mit ihm gerechnet hatte.

„Ich glaube, sogar Alfred Nobel freut sich in seinem Grab“, reagierte Ulrika Knutson, Vorsitzende der schwedischen Publizistenvereinigung. Tranströmer sei ein „warmer Humanist“ und ein „wirklich ein Poet, der in idealistischer Richtung arbeitet“. Tranströmer beschreibe den Alltag „so, dass wir diesen besser verstehen“, meinte der Vorsitzende des schwedischen PEN-Zentrums, Ole Larsmo. Und Tranströmers deutscher Verleger Michael Krüger vom Hanser Verlag kommentierte: „Ich habe immer gesagt: Wer einmal ein Wort von ihm gelesen hat, ist ihm verfallen.“

Der Geehrte selbst reagierte seiner Ehefrau Monica zufolge mit einer „guten Mischung aus leichtem Erschrecken, großer Überraschung und Freude“.

Die Mitglieder der Schwedischen Akademie hatten es wieder einmal geschafft und alle Voraussagen von Philip Roth über Adonis bis zu dem in vorletzter Minute plötzlich zum Favoriten in den Wettbüros aufgestiegenen Bob Dylan überführt. Erstmals seit 37 Jahren – 1974 waren Harry Martinson und Eyvind Johnson ausgezeichnet worden – bleibt der Preis wieder im eigenen Land. Und erstmals seit 15 Jahren – damals wurde die Polin Wislawa Szymborska geehrt – war es offenbar wieder einmal Zeit für einen Lyriker. Der ist zwar ein Schwede, aber anrüchig ist die Wahl deshalb längst nicht.

Mit einem Werk, das zumindest teilweise in mehr als 50 Sprachen übersetzt wurde, dürfte Tranströmer, neben der im Jahr 2009 verstorbenen Dänin Inger Christensen, der international bekannteste zeitgenössische skandinavische Poet überhaupt sein.

Geboren am 15. April 1931, der Vater Journalist, die Mutter Lehrerin, wuchs Tranströmer in Stockholm auf. An der dortigen Universität schloss er 1956 ein Psychologiestudium ab. Er arbeitete einige Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter, wechselte dann als Psychologe an eine Jugendstrafanstalt und später zur staatlichen Arbeitsmarktbehörde.

Seit seiner Kindheit verbrachte er viel Zeit auf den Stockholmer Schäreninseln. Gleich mit seinem Debüt 1954 („17 Gedichte“) platzierte sich der damals 23-Jährige oben auf der Liste der Naturlyriker, die im Schweden der fünfziger Jahre ihre Glanzperiode hatten.

Der Kontakt mit Meer und Küste, der Großvater, der dem Jungen viel von seiner Zeit als Lotse erzählte – kaum ein Gedicht aus dieser Schaffensphase, in dem nicht das Meer, als das so bekannte und doch so geheimnisvolle Wasser auftauchen würde; in dem nicht die Spannung zwischen diesem Frieden und dem Stimmengewirr der Großstadt zum Thema wird.

Typisch für ihn ist seine surrealistische Bildwelt: Die Schatten der Bäume sind schwarze Zahlen, eine Menschenmenge ein aufgerauter Spiegel. Seine Gedichte sind mit suggestiven und gleichzeitig sehr präzisen Bildern gefüllt: „Der Morgen steckt seine Strahlen ins Schloss und die Türen der Dunkelheit öffnen sich“; „meine Armbanduhr mit dem gefangenen Insekt der Zeit“; „die Morgenluft stellte ihren Brief zu, frankiert mit einer Marke, die glühte“.

Tranströmer habe „eine diebstahlsichere Fähigkeit, unerwartete Räume zu schaffen“, schreibt Aris Fioretos, Schriftsteller und ehemals Kulturrat an der schwedischen Botschaft in Berlin: „Stille Explosionen aus Freude und Trauer, Nischen für Verwunderung und Zuversicht.“

Seit Mitte der sechziger Jahre teilte sich Tranströmer seine Arbeitszeit zwischen seinem Beruf als Psychologe und dem Schreiben. Er reiste nach Griechenland, in die Türkei und die USA. Auch unter dem Einfluss dieser Reisen verschob sich seit den siebziger Jahren das Thema seine Dichtung immer mehr zum Verhältnis von Individuum und Umwelt, zu einer Welt geprägt von Gewalt und Terror.

„Er weist uns in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen“

AUS DER BEGRÜNDUNG DER AKADEMIE

Trotz seiner Bekanntheit war Tranströmer nie ein Autor, der sich explizit in gesellschaftspolitische Debatten einmischte, wofür er in sechziger und siebziger Jahren auch kritisiert wurde. „Man fordert politische Poesie, antwortete er einmal auf diese Kritik, meine aber „eine politische Klischeesprache“.

Ein Schlaganfall im Jahr 1990 beeinträchtigte Tranströmers Sprachzentrum. Es folgte eine längere Schreibpause, die er erst mit „Sorgogondolen“ (dt.: „Trauergondel“) 1996 beendete. Hier erfährt ein Poet die Grenzen seiner Ausdrucksfähigkeit, in welcher die Worte, die er sagen möchte, „außerhalb der Reichweite schimmern, wie Silber, bei einem Pfandleiher“. Die im Original im Jahr 2004 erschienene Gedichtsammlung „Das große Rätsel“ ist sein bislang letztes und laut Meinung vieler Kritiker schwächstes Buch.

Tranströmer Gesamtwerk besteht aus weniger als hundert Texten, wofür er mehrfach ausgezeichnet wurde; unter anderem mit dem deutschen Petrarca-Preis (1981), dem Literaturpreis des Nordischen Rats (1990) und dem skandinavischen August-Preis (1996).

Über seine Gedichte sagt Tranströmer selbst: „Die konventionellen Sprachen und Sichtweisen sind notwendig, wenn es darum geht, mit der Welt umzugehen, abgegrenzte konkrete Ziele zu erreichen. Aber in den wichtigsten Augenblicken haben wir oft erlebt, dass sie nicht halten. Wenn wir uns durch sie ganz dominieren lassen, führt der Weg zur Kontaktlosigkeit und Zerstörung. Unter anderem die Poesie sehe ich als Rezept gegen eine solche Entwicklung an.“

„Würde ein hypothetischer Lehrer fragen, wovon Tranströmers Poesie handelt“, schrieb der schwedische Schriftsteller Lars Gustafsson zu dessen 80. Geburtstag: „Dann würde ich antworten: Von dem Moment, wenn sich der Nebel hebt. Wenn der Alltag einen kurzen Augenblick aufbricht.“