Tunesien vor der ersten freien Wahl: "Die Revolution der jungen Frauen"

Drei Frauen berichten, wie die Realität nach dem Umsturz aussieht. Zwar befürworten alle Parteien die Gleichberechtigung, mit der Realität habe das aber wenig zu tun.

Gespannte Erwartung: Auch Frauen unterstützen die islamistische Partei Ennahda, die bei den Wahlen am Sonntag als Favorit eingeschätzt wird. Bild: ap

TUNIS taz | "Ich heulte nicht. Ich schaute dem Polizisten einfach in die Augen", erinnert sich Marwa Rekik an den Tag, als sie auf der Hauptstraße von Tunis, der Avenue Habib Bourguiba, zuerst zusammengeschlagen, dann an den Haaren mehrere hundert Meter bis zu einem Mannschaftswagen geschleift wurde, wo sie festgehalten und bedroht wurde. Blutüberströmt saß die Reporterin des oppositionellen Internetradios Kalima da.

Ein Polizist setzte sich neben die zierliche Frau und beschimpfte sie. "Dann wollte er immer wieder wissen, warum ich auf die Demos gehe und für Kalima berichte", erinnert sich Rekik. "Weil ich Tunesien liebe, weil mein Tunesien lebt und eures tot ist. Ich verachte euch und mit euch das ganze Regime", gab sie zur Antwort, starr, gefasst, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Schließlich wurde sie freigelassen, die Platzwunde am Kopf musste mit fünf Stichen genäht werden.

Das war im Mai, vier Monate nach dem Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Die Demonstration führte schließlich zum Rücktritt der Übergangsregierung aus alten Parteigängern der Diktatur. "Es war das einzige Mal, dass ich in all den Jahren von der Polizei so angegangen worden bin", erinnert sich die junge Frau. Sie sitzt im Straßencafé neben dem Stadttheater der Hauptstadt und zieht wenige Tage vor den ersten freien Wahlen Resümee.

Die Journalistin

Marwa Rekik ist 25 Jahre alt. Sie gehört damit zu der Generation, die fast ihr ganzes Leben unter der Diktatur von Ben Ali verbracht hat. Und sie gehört zu denen, die seiner Herrschaft nach 23 Jahren, am 14. Januar 2011, ein Ende bereitete. "Es war die Revolution der jungen Menschen, und es war die Revolution der jungen Frauen", sagt Rekik selbstsicher. Den vorsichtigen Blick über die Schulter hat sie sich abgewöhnt. Zwar sei noch immer Zivilpolizei im Stadtzentrum unterwegs, aber die Angst ist weg.

"Ich habe schon auf dem Gymnasium meinen Respekt vor der Diktatur verloren", erinnert sich Rekik. Das System war damals überall präsent. Als Schülerin in Fax, der zweitgrößten Stadt Tunesiens, engagierte sie sich beim Schulradio und wurde schließlich dessen Chefredakteurin.

Die Wahlen: Am 23. Oktober entscheiden die Tunesier über eine verfassunggebende Versammlung und eine Übergangsregierung.

Die Kandidaten: Insgesamt sind 111 Parteien zugelassen, in manchen Wahlbezirken gibt es bis zu 92 Listen. Im ganzen Land kommen so 1.428 Listen zusammen, auf denen paritätisch - so will es das neue Wahlgesetz - insgesamt 10.937 Männer und Frauen stehen.

Die Frauen: Nur 292 Frauen führen trotz der paritätischen Regelung ihre jeweilige Liste an. Bei der islamistischen Ennahda ist es eine Frau, bei der Demokratischen Fortschrittspartei sind es drei Frauen. Nur das Linksbündnis Modernistischer Demokratischer Pol hat es geschafft, dass die Hälfte der Listen von Frauen angeführt werden.

Die Islamisten: Als Favorit wird die islamistische Ennahda gehandelt. Sie dürfte die Wahlen gewinnen, auch wenn es zur Parlamentsmehrheit nicht reichen wird. Die bereits unter der Diktatur geduldete Demokratische Fortschrittspartei (PDP), die sozialdemokratische Ettakatol und das Bündnis um die Postkommunisten, der Modernistische Demokratische Pol, sind die anderen drei wichtigen Formationen.

So stand ihr "die große Ehre" zu, am 7. November, dem Jahrestag der Machtübernahme von Ben Ali, die vom Bildungsministerium verfasste Grußbotschaft an den Präsidenten im Namen der Schüler über die Lautsprecheranlage zu verlesen und patriotische Gesänge abzuspielen, berichtet die junge Frau.

"Meine persönliche Explosion"

"Ich hielt das nicht aus." Die ersten Jahre meldete sie sich einfach krank. Im Abiturjahr dann weigerte sie sich und sprach offen aus, was sie vom Regime hielt. Der Direktor war entsetzt. "So redet man nicht", schimpfte er und gab ihr den Ratschlag, "meine Haltung zu überdenken".

Rekik ließ sich nicht irritieren und ging zum Studieren nach Tunis an die Filmhochschule. "Das war meine persönliche Explosion", erinnert sie sich. Schnell bekam sie Kontakt zu der Studentengewerkschaft UGET, trat vorübergehend der geduldeten oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) bei und lernte 2008 die Bürgerrechtlerin Sihem Bensidrine kennen.

"Eine wirklich mutige Frau", sagt sie über Bensidrine, Gründerin und Chefredakteurin der oppositionellen Onlinezeitung "Kalima" und des gleichnamigen Internetradios. Rekik arbeitete fortan als Straßenreporterin für Radio Kalima.

"Die Polizei verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Schließlich drohte man mir, dass ich meinen Hochschulabschluss nicht machen kann." Rekik legte eine Pause ein. Statt auf der Straße nach Themen für das Radio zu suchen, begann sie mit Dokumentarfilmen über kritische Stimmen in Tunesien und stellte die Kurzfilme auf Festivals vor. "Den letzten von drei Filmen haben wir nie fertiggestellt", erzählt sie.

Es war Anfang Januar 2011. Mitten in die Dreharbeiten platzten die Demonstrationen gegen Ben Ali in Tunis. "Das ganze Team war nur noch auf der Straße", erinnert sich Rekik. Als der Diktator nach Saudi-Arabien floh, kam bei Kalima plötzlich die Idee auf, den Sender auszubauen, auf UKW zu gehen. "Ich war sofort wieder dabei", sagt Rekik.

Mittlerweile hat die Journalistin ein eigenes Programm mit einer kritischen Presseschau, in dem sie außerdem Facebookseiten vorstellt und Interviewpartner aller Couleur einlädt, "auch solche, die fest hinter dem Regime standen".

In die Parteienlandschaft will sich Rekik auch jetzt nach der Revolution und vor den Wahlen nicht einmischen. Sie sieht ihren Ort weiterhin in der Zivilgesellschaft. "Im Radio kann ich so frei reden wie sonst nirgends."

Die Gewerkschafterin

"Es sind Frauen wie Marwa, die dieses Land so besonders machen", ist sich Nejiba Bakhtri sicher. Die 62-jährige Sportlehrerin ist schon ihr ganzes Leben lang in der Gewerkschaft UGTT aktiv. Dort betreut sie auch jetzt nach der Pensionierung noch die Lehrer der Mittel- und Oberstufe in Tunis.

"Die UGTT war einer der wenigen Freiräume im Regime", sagt die kleine, kräftige Frau, die nach einem Ausflug in die Welt der Parteien - erst war sie bei der PDP, dann gründete sie "als engagierte Ökologin" in der Illegalität die Grüne Partei Tunesien mit - sich wieder ganz der Gewerkschaftsarbeit widmet.

Nejiba Bakhtri und Marwa Rekik lernten sich in Rekiks Phase als Filmemacherin kennen. "Grün Orange" heißt die kurze Reportage, die Rekik ihr gewidmet hat. Wer Bakhtri in ihrem Haus in Hammam-Lif, 20 Autominuten südlich der Hauptstadt, besucht, weiß, warum.

Alles steht voller Pflanzen, die Türrahmen, die Wände und große Teile der Wohnungseinrichtung sind orange gestrichen. "Mein kleines Paradies", sagt die geschiedene Frau stolz. Hierher zieht sie sich zurück, wenn ihr draußen alles zu viel wird.

Das kommt oft vor. "Denn als Frau musst du ständig gegen den Machismus ankämpfen. Doch wir tunesischen Frauen sind stark und dominant", sagt sie bei Kaffee und Zigarette am kleinen Tisch mitten in ihrem kleinen botanischen Innenhof.

Für Marwa Rekik ist Nejiba Bakhtri ein Vorbild, so etwas wie die politische Mutter. Bakhtri gehört zu der Generation, die nach der Unabhängigkeit ihres Landes 1956 aufgewachsen ist. "Wir waren die erste Generation von Frauen, die freien Zugang zu Schulen und Universitäten hatte", sagt sie.

"Mindestens zwei Generationen bis zur Gleichstellung"

Der erste Präsident des freien Tunesiens, Habib Bourguiba, hatte Gesetze erlassen, die die Frau rechtlich dem Mann gleichstellte. Ein Novum in der arabischen Welt. In den Nachbarländern Algerien und Marokko ist dies bis heute nicht so.

"Aber auch in Tunesien brauchen wir noch mindestens zwei Generationen, bis die Frau tatsächlich völlig gleichgestellt ist, vielleicht sogar Präsidentin werden kann", sagt Bakhtri. Bei den kommenden Wahlen machen die Frauen einen weiteren wichtigen Schritt. Alle Parteien sind per Gesetz angehalten, paritätische Listen aufzustellen.

Dennoch ist Bakhtri angespannt. Sie hat wie viele ihrer Geschlechtsgenossinnen Angst, es könne zurückgehen. Der Grund ist der große Zulauf, den die islamistische Partei Ennahda genießt. Sie wird bei den Wahlen wohl am besten abschneiden. 30 Prozent, 40 Prozent, keiner weiß es zu sagen.

Meinungsumfragen sind in Tunesien während des Wahlkampfs nicht erlaubt. Zwar reden die Islamisten Ennahdas von den Rechten der Frauen, von Gleichstellung und Toleranz, doch wie viele befürchtet auch die Gewerkschafterin Bakhtri, dies sei "nur ein doppelter Diskurs, um Stimmen zu gewinnen und die Menschen zu beruhigen".

"Selbst in meinen Kreisen, in der Gewerkschaft und in den fortschrittlichen Parteien herrscht der doppelte Diskurs. Offiziell sind alle für die Gleichberechtigung, aber mit der Realität hat das nur wenig zu tun", sagt sie. Deshalb könne eine traditionellere, islamistische Politik durchaus auf Zustimmung stoßen. "Doch wir sind wachsam, wir werden dagegenhalten", sagt Bakhtri selbstsicher.

Die Politikerin

"Die Islamisten sagen immer wieder, dass das Gesetz der persönlichen Freiheiten, das die Frau gleichstellt, nicht heilig sei", sagt auch Maya Jribi, Generalsekretärin der PDP, jener Partei, die einst Rekik und Bakhtri als Freiraum diente.

"Wir werden es nicht zulassen, dass es verändert wird. Unter anderem deshalb bin ich Kandidatin für die verfassunggebende Versammlung", fügt Jribi hinzu. Sie ist die einzige Frau, die in Tunesien einer Partei vorsteht. Im gesamten Nordafrika gibt es nur eine weitere, Louisa Hanoune von der Arbeiterpartei in Algerien.

Jribi ist zuversichtlich: "Wer sich umschaut, sieht, wir leben in der Ära der Frau. Nicht nur in Tunesien, auch in anderen Ländern spielt die Frau bei den Protesten eine wichtige Rolle. Selbst im Jemen. Dort sind sie verschleiert, aber gehen auf die Straße", sagt die 51-Jährige.

Ein weiterer Beweis seien die Regierungschefinnen überall auf der Welt. Sie selbst wird es vorerst nicht so weit bringen. Selbst wenn der PDP so ein wichtiges Amt oder gar das des Präsidenten zufallen würde, hätte der Parteigründer Vorrang.

Dass die Männer auch in Jribis Partei noch immer mehrheitlich die wichtigen Ämter besetzen und nur drei von insgesamt 33 regionalen Kandidaturen der PDP von Frauen angeführt werden, ist für Jribi "normal". "Das ist ein Abbild der Realität. Die Diktatur hat alle unterdrückt, aber die Frauen ein Stück mehr. Die Frau steht so in der Politik Tunesiens mehrheitlich an zweiter Stelle", sagt Jribi. "Das ist übrigens nicht nur in der arabischen Welt so", gibt sie zum Abschied zu bedenken.

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