Eine radikale Aufklärerin

DISKURS Gemeinsam mit ihrem Mann Alexander stiftete Margarete Mitscherlich seit den sechziger Jahren Debatten über die nationalsozialistische Vergangenheit an: Sie beklagte die „Unfähigkeit zu trauern“ und fragte: „Müssen wir hassen?“

■ Die Frau: Margarete Mitscherlich-Nielsen wurde 1917 im dänischen Gråsten als Margarete Nielsen geboren und studierte Literatur und Medizin. 1947 lernte sie den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich kennen, 1949 wurde ihr Sohn geboren. Er wuchs zunächst bei der Großmutter auf.

■ Die Karriere: 1950 Promotion zum Dr. med., danach psychoanalytische Ausbildung. Mitscherlich ist Mitgründerin des ersten Instituts für Psychoanalyse in Deutschland (Sigmund-Freud-Institut, Frankfurt am Main) wo sie bis zuletzt als Psychoanalytikerin tätig war. Seit 1982 war sie Herausgeberin der Zeitschrift Psyche.

■ Das Werk: „Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens“ (1967); gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich entwirft sie eine sozialpsychologische Analyse Nachkriegsdeutschlands. 1972 folgt „Müssen wir hassen?“, 1978 setzte sie sich in ihrem Sammelband „Das Ende der Vorbilder“ mit der Problematik der Idealisierung auseinander. „Eine friedfertige Frau“ (1985) untersucht das Rollenverhalten der Frau in der Politik. Zuletzt erschien von ihr 2010 „Die Radikalität des Alters“.

■ Die Ehrungen: 1982 erhält sie die Wilhelm-Leuschner-Medaille für ihre Verdienste um die demokratische Gesellschaft. Es folgen u. a. 1990 die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt und 2001 der große Verdienstorden der BRD.

VON JAN FEDDERSEN

BERLIN taz | So etwas darf man Pop nennen: zur rechten Zeit am rechten Platz mit dem rechten Thema zu sein. Das war 1967, als Margarete Mitscherlich-Nielsen mit ihrem Mann Alexander eine Schrift über „Die Unfähigkeit zu trauern“ veröffentlichte. Das Werk wurde die Fibel für all jene, die erst mit der Generation der Achtundsechziger begannen, sich an der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschland abzuarbeiten.

Mitscherlich-Nielsen, 1917 nahe der deutschen Grenze im dänischen Grasten geboren, wusste möglicherweise schon damals, 1967, dass in den Vokabeln „Unfähigkeit“ und „trauern“ das Besteck für kommende Diskursmacht liegt. Mit diesem Buch profilierten sich beide Mitscherlichs als wichtige Sprecherinnen im linksliberalen Feuilleton- und Politikgeschäft der siebziger und achtziger Jahre.

Die Mitscherlichs – das war eine Paarung von beinahe unüberwindbarer Kraft. Dabei war das Buch, das beide über ihre Fachzirkel hinaus bekannt machte, ein Missverständnis: Ihre These bezog sich nicht auf das Fehlen von Trauer aufseiten der nichtjüdischen Deutschen um die ermordeten jüdischen Nachbarn, Kollegen oder Angehörigen – sondern, so ihre Pointe, auf mangelnde Trauer um den verlorenen, weil toten Führer. Aber das Missverständnis nahm Margarete Mitscherlich-Nielsen in Kauf – auf für Psychoanalytiker in gewisser Hinsicht nicht untypische Art: Spricht man nicht über das eine, so ist das andere, das zum Sprechen drängt, nicht unwichtig.

So hielt sie es mit allen Themen, die sie aufgriff, die mit ihr öffentlichen Raum gewannen oder überhaupt Teil des Diskurses wurden: „Müssen wir hassen?“, „Das Ende der Vorbilder“ oder „Die friedfertige Frau“ sind Publikationen aus ihrer Feder. Sie waren perfekt geeignet, auf Kirchentagen, in Evangelischen Akademien und anderen Stätten der liberalen Bürgerlichkeit Geltung zu bekommen. Denn, so schälte sich der neue deutsche Moralkonsens der Zeit nach dem Nationalsozialismus heraus: Hassen muss niemand, Vorbilder sind nötig, aber nicht im überhöhenden Sinne; Frauen haben das Talent zum Miteinander, das Männliche sei das Gegeneinander.

Sie agierte ohne romantisch-verklärenden Mädchenschmus, ohne Sentimentalität

Seit 1982 fungierte sie als Herausgeberin der Zeitschrift Psyche wie auch als Psychoanalytikerin im Frankfurter Westend. Sie hat auch Kritik einstecken müssen: Ihr Buch von der friedfertigen Frau blende aus, dass Frauen ebenso am antisemitischen Wahn teilhätten, dass sie nicht nur erduldeten, sondern auch beförderten.

Mitscherlich-Nielsen war selbst vielleicht das beste Beispiel für eine Frau, die ohne romantisch-verklärenden Mädchenschmus, frei von Sentimentalität agieren konnte – und stets bestritt, dass der Mann der Frau in Sachen Aggressivität überlegen sei. In den vergangenen Jahren, so erzählte sie in Interviews im Fernsehen wie gelegentlich für Zeitungen, blicke sie mit Zufriedenheit auf ihr Leben zurück. Sie habe realisieren können, was ihr gegeben gewesen sei. In jüngster Zeit konnte sie nicht mehr in ihr italienisches Feriendomizil am Lago Maggiore reisen, zu gebrechlich wurde sie, angewiesen auf ein Gehwägelchen.

Freunde berichten, sie habe sich immer ihre optimistische Auffassung vom Leben bewahren können. In einem Gespräch mit der FAS sagte sie vor anderthalb Jahren: „Wenn Sie anfangen, eine unfreundliche alte Hexe zu werden, dann wird das Leben schwierig.“ 94-jährig ist Mitscherlich-Nielsen, eine der wichtigsten Inspiratorinnen nicht allein der Frauenbewegung, am Dienstag in Frankfurt am Main gestorben.