Syphilisepidemie in der Sexfilmbranche: Kondompflicht im Pornotal

Das Präservativ – Bedrohung für die Erektion und für das Geschäft. Im November wird in Los Angeles abgestimmt: Sollen Präservative beim Sexfilmdreh zur Pflicht werden?

Ein geeigneter Ort für Kondome: Sexfilmerei in Los Angeles. Bild: reuters

SAN FERNANDO VALLEY taz | Vielleicht muss man das auch als eine Warnung Gottes verstehen, sagt Mr. Marcus, der Pornostar. Vielleicht wollte er ihn direkt an den Abgrund stellen. Damit er hinuntersehen konnte – ohne zu fallen. Vorerst.

Syphilis. Nicht HIV.

Marcus J. Spencer, 42 Jahre alt, 18 davon im Geschäft, sitzt in seinem Büro, das eine Garage in einem Industriegebiet ist, und im Augenblick kann er nur abwarten, ob es das jetzt war. Spencer, genannt Mr. Marcus, ist das Zentrum der Syphilisepidemie, die die Pornobranche im kalifornischen San Fernando Valley mehrere Wochen vom Drehen abgehalten hat.

Die Abstimmung: Am 6. November stimmen die Bewohnerinnen des Bezirks Los Angeles über eine Maßnahme ab, die in der Pornoindustrie eine Kondompflicht einführen würde. Kontrolleure sollen den Einsatz überprüfen.

Die Seuche: Im Sommer stellte die Sexfilmbranche im San Fernando Valley für mehrere Wochen den Betrieb ein, weil mehrere Fälle von Syphilis aufgetreten waren. Während in Europa von ungefähr 100 Fällen in der Pornobranche gesprochen wird, war in Kalifornien von 9 die Rede.

Der Erreger: Das Bakterium Treponema pallidum verursacht Syphilis. Kondome schützen, aber sie schließen eine Übertragung nicht aus.

Der Syphilisausbruch hätte für die Pornofirmen zu keiner ungünstigeren Zeit kommen können. Im November wird im Bezirk Los Angeles, in dem das San Fernando Valley liegt, über eine Kondompflicht für Pornoproduktionen abgestimmt. Die Aids Healthcare Foundation, eine der weltweit größten Organisationen zur Aids-Gesundheitsvorsorge, hat ihren Hauptsitz nur wenige Kilometer von jenem Tal entfernt, das diese Welt mit Pornografie versorgt, und sie will Kondome nicht nur vorschreiben lassen, sondern mit Kontrolleuren des Gesundheitsamtes überprüfen, ob sie eingesetzt werden.

Die Verbände der Pornobranche haben eine Gegenkampagne gestartet. Die Organisation, die die Pornofirmen vertritt, heißt Free Speech Coalition. Koalition für die Meinungsfreiheit. Ein Verfassungsrecht. Wie oft, wenn in den USA etwas verteidigt werden soll, was nicht allzu viel Sinn hat, behaupten die Verteidiger, es stehe etwas Großes auf dem Spiel: die Freiheit.

In Quarantäne

Das wichtigste Argument der Pornobranche gegen den Kondomzwang ist ihr Testsystem. Jede Darstellerin, jeder Darsteller werde regelmäßig auf Geschlechtskrankheiten getestet, alle 28 Tage. „Ein härteres System werden Sie nirgends auf der Welt finden“, sagt der Sprecher der Kampagne.

„Wir gelten als dreckig“, sagt die Darstellerin London Keyes. „Und die da draußen als sauber. Aber eigentlich sind wir in Quarantäne. Wir werden ständig getestet.“

„Wir glauben alle an dieses Testsystem“, sagt Marcus J. Spencer, der Mann, der gerade gezeigt hat, wie wenig es wert sein kann.

Er sitzt auf dem braunen Sofa in seiner Bürogarage, hinter ihm eine Hantelbank. An seinen breiten Armen winden sich Tätowierungen entlang. In einem Metallregal liegt sein Penis als Dildo, originalverpackt. Mr. Marcus ist einer der wenigen männlichen Stars, die diese Branche hat. Vielleicht muss man auch schon sagen: gewesen.

Es lief gerade wieder gut, Ende Juli. Fast jeden Tag rief jemand an und fragte, ob er drehen könne. Er klappte sein MacBook zu, fuhr in ein Studio, in ein Haus, ein paar Meilen weiter. Die Frauen waren schon geschminkt. Er fickte sie. Zwei Stunden. Er fuhr nach Hause. 700, 800 Dollar. Er klappte sein MacBook wieder auf und kümmerte sich um seine Website und um die Darstellerinnen, die er managen wollte. Er würde ja nicht ewig drehen können.

Alle 30 Tage ging er in den Laden, wo sie ihn auf HIV, Tripper, Chlamydien und Syphilis testeten. Den Test zeigte er beim Drehen vor.

Er ließ seine Ergebnisse nicht in die Datenbank eintragen, in der nach Angabe der Branchenverbände die 1.200 anderen Darstellerinnen und Darsteller registriert sind. Er unterlief dieses System, an das alle glaubten, weil er wusste, dass es sich gegen ihn wenden könnte. Im Ernstfall.

Er konnte Darren James nicht vergessen.

„Ich habe erlebt, wie sie ihn behandelt haben“, sagt Marcus J. Spencer.

Darren James, 48 Jahre alt, ist das Gesicht, das für die Kondompflicht wirbt. Er ist in vielem das Gegenteil von Marcus J. Spencer. Er ist nicht besonders hübsch, ziemlich dürr, er geht ein wenig gebeugt, als müsste er sich ständig vor etwas wegducken.

Darren James ist HIV-positiv. Er hatte sich bei einem Dreh in Brasilien angesteckt. Mehrere Darstellerinnen haben sich dann 2004 bei ihm infiziert. Es war der meistbeachtete Drehstopp, den das San Fernando Valley je erlebt hatte.

Reporter belagerten sein Haus. James floh Richtung Mexiko, er schluckte so viele Tabletten, dass er hätte sterben müssen, aber die Ärzte retteten ihm das Leben. James beschloss, mit diesem Leben etwas anzufangen. Er würde über die Gesundheitsgefahren der Pornobranche aufklären.

The Industry, sagt Darren James. The Industry, sagt Marcus J. Spencer. Es klingt wie eine dunkle Macht.

Im Grunde geht es nur um Erektionen und um Geld, sagt James.

Am Set ist der Penis des Darstellers der Mittelpunkt. Steht er nicht, ist die Szene hinüber. Kondome sind eine Bedrohung für die Erektion. Für das Geschäft.

Darren James war in der Navy und wollte zur Polizei, aber sie nahmen ihn nicht. Dann ging er eines Tages, Ende der Neunziger, zu einem „Cattle Call“, einer Fleischbeschau. Nackte Männer und Frauen standen in einer Reihe, und Pornoproduzenten begutachteten Penisse und Brüste.

Darren James’ Penis war groß genug. Er stand, wenn er musste. Wenn einer ausfiel, sprang James ein und kassierte dessen Gage. Er fickte in Tschechien, er fickte in Brasilien und manchmal fickte er neue Darstellerinnen vor ihrem ersten Analdreh ein, sagt er. Er hatte so viel Sex mit schönen Frauen wie in seinem ganzen Leben nicht. Alle 30 Tage ging James zum Blutabnehmen.

30 Tage sind eine lange Zeit. Man kann HIV in sich haben, ohne dass es nachweisbar ist. Darren James war HIV-positiv, als sein Test noch etwas anderes anzeigte.

Er drehte weiter. Bis das HIV auf dem Testbogen erschien.

Als er im Frühjahr 2004 davon erfuhr, hatte auch schon CNN seinen Namen. Er sei jetzt der Mann, sagt James, der die Seuche in die Branche brachte. Jedes Mal, wenn eine neue Epidemie ausbricht, ist sein Bild in den Zeitungen zu sehen.

„Wir haben alle einfach nur einen Job gemacht“, sagt Darren James mit dieser ruhigen Stimme von einem, der seit Jahren etwas erklären muss.

Vor einem Jahr hat er einen neuen Job gefunden: Er klärt auf den Straßen von Los Angeles über HIV auf, für die Aids Health Foundation. Jene Organisation, der er gerade sein Gesicht leiht, um für die Kondompflicht zu werben.

Die Pornobranche lässt streuen, er tue es nur fürs Geld. Er sei geschmiert. The Industry.

Als am 12. Juli auf dem Testzettel von Marcus J. Spencer steht, dass der Syphiliserreger bei ihm nachgewiesen worden ist, weiß er nicht, was er tun soll.

Bisher ging es immer nur um HIV, Tripper und Chlamydien. Tripper und Chlamydien hatten alle immer mal wieder, aber niemand sprach darüber. HIV hatte niemand, hoffte man, aber auch darüber sprach niemand. Spencer ging zu seinem Hausarzt, der verschrieb ihm ein Antibiotikum und sagte, dass in zehn Tagen alles in Ordnung sein sollte.

Die Produzenten riefen an. Mr. Marcus sagte: Ich kann nicht. Er habe dabei jedes Mal Geldscheine davonfliegen sehen, sagt er.

Wo ist die Lücke im System?

Marcus J. Spencer hat eine Frau und zwei Kinder, 10 und 16 Jahre alt. Er redet ungern darüber, ob er mit ihnen darüber spricht, was er beruflich macht. Es klingt aber so wie: eher nicht.

Weil Mr. Marcus nicht in der zentralen Pornodatenbank geführt wird, weiß keiner von seinen Bakterien. Als nach zehn Tagen immer noch Antikörper zu sehen sind, fährt er trotzdem zum Dreh. Das Syphilisergebnis steht unten auf dem Bogen, er knickt es beim Vorzeigen weg.

Viele sagen jetzt, dass sie einem Betrüger aufgesessen sind. Selbst das beste System kann mit krimineller Energie überlistet werden, soll das heißen. Aber wo hat sich Spencer infiziert? Wo sind die anderen Lücken im System?

Er sagt, er weiß es nicht. Es gibt Gerüchte. Eine Französin, die kurz zum Drehen in Kalifornien war. Mit der er beruflich und privat schlief. Die mit vielen schlief, mit Ungetesteten. Die auch „Escort“ machte.

Bisher ist niemand bekannt, den Mr. Marcus infiziert hätte. Von acht anderen Fällen ist die Rede, keiner wird mit ihm in Verbindung gebracht. Trotzdem ist er jetzt der Schuldige. Er ist die Epidemie.

Sie hätten damals, sagt Darren James, wenn aus einer Vagina etwas herausfloss, Antibiotika genommen, vorbeugend. Statt darüber zu sprechen.

Anfang November wird abgestimmt. Eine Milliarde Dollar könne der Region verloren gehen, droht die Industry.

Gang und Geheimbund

Wenn Steven Hirsch von der Industry spricht, klingt es wie eine Mischung aus Gang und Geheimbund. Irgendwie verschwörerisch. Hirsch ist der Chef von Vivid Entertainment, einer der größten Pornofirmen der USA.

Er arbeitet an einem glänzenden Schreibtisch aus dunklem Holz an einer befahrenen Straße in Hollywood. In der Parkgarage steht sein Mercedes mit acht Zylindern. Die Aids Foundation, sagt Steven Hirsch, habe von der Industry keine Ahnung. Seine Stimme schnarrt zügig vorbei wie die Autos. Warum soll der Staat eingreifen, wenn Menschen einvernehmlich vor der Kamera Sex haben? Eine Kondompflicht verzerre den Wettbewerb. In Europa, in Nevada, in Florida dürfe weiter ohne gedreht werden.

Die Darsteller wollen keine Kondome, sagt Steven Hirsch. Kondompornos verkaufen sich nicht. Selbst die Darstellerinnen wollten oft keine Kondome, weil sie wehtun können.

Aber gibt es nicht einen Gruppendruck, der dafür sorgt, dass selbst die, die Kondome wollten, es nicht sagen können, weil die Industry sie sonst verstößt?

Es gebe mehr Darstellerinnen als gebraucht würden, sagt Steven Hirsch. „Wir zwingen niemanden. Aber du bist hier eben im Adult Business, im Erwachsenengeschäft. It is what it is.“

Jetzt sitzt Marcus J. Spencer in seiner Garage, draußen drückt die Hitze aufs Tal, und er wartet, was passieren wird. Er hofft, dass ihn jemand engagiert. Er überlegt, ob er Regisseur werden soll. Er hofft, dass die Leute merken: „Wenn das Mr. Marcus passieren kann, kann es jedem passieren.“

Darren James hat neulich mit ihm telefoniert, sie kennen sich, von früher. Ihre Situation ist jetzt ganz ähnlich. Sie sollen die Schuldigen sein.

„Die Geschlechtskrankheit ist das Stiefkind dieser Branche“, sagt Spencer. „Wir wollen nicht zugeben, dass sie zum Sex dazugehört.“

Marcus J. Spencer sagt, dass er gegen die Kondompflicht ist. Trotz allem.

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