Der bedrohte Kosmos

PROGRAMM Großes intellektuelles Kino

Es gibt keinen anderen Verlag, der so intensiv als Nahtstelle zwischen Geisteswissenschaften und Gegenwartsdiskurs funktioniert

BERLIN taz | Suhrkamp ist im Grunde ein seltsamer Verlag. Am seltsamsten: wie viele unterschiedliche verlegerische Ansätze in diesem Haus unter ein Dach passen. Wenn man sich das aktuelle Frühjahrsprogramm ansieht, stellt man entsetzt fest: Dadurch, dass sich bei Suhrkamp Mehrheitsbesitzerin und Minderheitsbesitzer außergerichtlich nicht einigen können, ist ein ganzer verlegerischer Kosmos bedroht.

Da ist als Erstes natürlich die deutschsprachige Literatur, traditionell die Abteilung, mit der Suhrkamp am direktesten die eigene Identität verknüpft. In diesem Frühjahrsprogramm muss die junge Autorin Annika Scheffel zwar fast allein das Gewicht des Anspruchs tragen, die deutsche Literatur zu erneuern. Aber es gibt viele schöne Klassiker und Fastklassiker: Thomas Brasch, Siegfried Kracauer, Alexander Kluge, Christa Wolf, Arno Schmidt. Und das vergangene Herbstprogramm überstrahlt ohnehin noch alles. Stephan Thomes „Fliehkräfte“ und Clemens J. Setz’ „Indigo“ standen sich gegenüber: kluge Beobachtung von Lebensläufen (Thome) und erzählerisches Hexenmeistertum (Setz), zwei radikal unterschiedliche Ansätze einer erneuerten Gegenwartsliteratur. Und Rainald Goetz’ Roman „Johann Holtrop“ war das am leidenschaftlichsten diskutierte Buch der Saison.

Bei der internationalen Literatur darf man im Frühjahr auf das 1.000-seitige Epos „Europe Central“ von William T. Vollmann gespannt sein; mal sehen, ob es wirklich auf einer Höhe ist mit Thomas Pynchon und David Foster Wallace, wie der Verlagskatalog ankündigt. In den USA hoch gehandelt wurde zudem der Bosnienkriegsroman „Scherben“ von Ismet Prcic. Außerdem gibt es Neues von David Vann und Amos Oz.

Großes intellektuelles Kino bieten aber vor allem die geisteswissenschaftlichen Neuerscheinungen. Kulturtheorie von Dirk Baecker, Hartmut Rosa zu „Beschleunigung und Entfremdung“, gesammelte Essays des 2011 gestorbenen Friedrich A. Kittler, außerdem Sammelbände über den „Wert des Marktes“ in der stw-Reihe sowie über Burn-out in der edition suhrkamp. Es gibt immer noch weit und breit keinen anderen deutschen Verlag, der so intensiv als Nahtstelle zwischen den Geisteswissenschaften und einem gesellschaftlichen Gegenwartsdiskurs funktioniert wie Suhrkamp.

Lustig noch: die Blanko-Notizhefte in den klassischen Reihen stw, edition suhrkamp und Bibliothek Suhrkamp. Es kann jetzt also jeder Mensch sein eigener Suhrkamp-Autor werden. DRK