Der historische Blick

GESPRÄCH Die indische Autorin Geetanjali Shree über ihr Land, Menschlichkeit und den Anfang der weiblichen Emanzipation

■ Jahrgang 1957, Historikerin und Schrifstellerin. Lebt in Neu-Delhi. Ihr aktuelles Buch, „Unsere Stadt in jenem Jahr“, erschien 2013 im Heidelberger Draupadi Verlag.

INTERVIEW SOPHIE FEDRAU

taz.lab: Frau Shree, worum geht es in Ihrem neuen Buch?

Geetanjali Shree: Um das problematische Verhältnis zwischen Gemeinschaften, die ihre unterschiedlichen Identitäten betonen. In diesem Fall konkret um Hindus und Muslime. Der Diskurs bei uns ist gespalten: Die einen glauben, dass sie friedlich zusammenleben können, die anderen meinen, dass ihre Weltanschauungen zu verschieden seien, um eine Einheit werden zu können. Der Roman handelt von Personen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, die an die Einheit der Religionen glauben, und erkundet die gegenwärtige Atmosphäre diverser Ideologien, die auch das Leben derjenigen beeinträchtigen, die sich ihnen entgegenstellen.

Spielt die Suche nach einer besseren Gesellschaft eine Rolle?

In allen meinen Werken gibt es Sensibilisierungen für „andere“ Arten, zu denken und zu leben. In dem Roman „Mai“ (dt. „Mutter“) steht die jüngere Generation, die sich mit dem „modernen“ Feminismus identifiziert, der Mutter gegenüber, die eine frühere Generation repräsentiert. Es geht nicht darum, zu behaupten, den richtigen Weg gefunden zu haben, sondern darum, andere Wege und Menschen mit Respekt zu behandeln – es ist ein Plädoyer für Bescheidenheit und Menschlichkeit.

Wie bewerten Sie die Fälle sexualisierter Gewalt gegen Frauen in Indien?

Ich war Historikerin, bevor ich meine wirkliche Bestimmung entdeckte. Meine frühere Beschäftigung mit Geschichte beeinflusst die Art, wie ich die Dinge betrachte. Das, was uns mit seiner Plötzlichkeit überrascht, ist nur der Ausbruch dessen, was verborgen unter der Oberfläche geglommen hat. Die Leute, gewöhnt an Allgegenwart von Gewalt um sie herum, werden nur dann aufgerüttelt, wenn die „normale“ Gewalt plötzlich einen besonders grausamen Ausdruck findet.

Eine Bloggerin löste hier mit dem Aufruf, sexuelle Übergriffe öffentlich zu machen, eine heftige Debatte aus. Müsste der Feminismus nicht weiter sein?

Die Idee, dass es in Teilen der Welt eine Emanzipation der Frauen gegeben hat, im Unterschied zu der unverfrorenen Unterordnung anderswo, ist weit verbreitet. Die traurige Wahrheit ist jedoch, dass es nirgendwo mehr als nur einen Anfang gegeben hat.Vielfältige Faktoren bringen Frauen angesichts von Diskriminierung und Ausbeutung zum Schweigen. Auch dort, wo Frauen einen gewissen Grad von materiellem Wohlstand erlangt haben, erleben sie weiterhin auf vielfältige Arten Diskriminierung und Gewalt. Die Denkart der Gesellschaften ist bemerkenswert ähnlich, der „männliche“ Blick ist weiter verbreitet, als wir zuzugeben bereit sind.

Lässt sich Gewalt literarisch verarbeiten?

Es gibt kein einfaches Rezept. Literatur kann ein Instrument für die angestrebte Veränderung sein. Das wird jedoch langsam und unmerklich vor sich gehen. Es wird kaum geschehen, dass eine Person sich hinsetzt, ein Buch liest und zu einer anderen Person wird! Literatur bedeutet, die Menschen zu sensibilisieren, das ist alles. Künste sind ein Maßstab für das, was Menschen anstreben, und für das, was menschliche Wesen werden können.

Geetanjali Shree ist auf dem taz.lab zu Gast – in der Veranstaltung „Indien zwischen den Zeilen“.