Das Blutbad am Patriots’ Day

TERROR Kein Täter bekennt sich zum Bombenattentat, über Motive spekulieren die Amerikaner nicht einmal

■ Hamburg: Rund 15.300 Läufer wollen am Sonntag in Hamburg Marathon laufen. „Wir haben generell ein hohes Sicherheitsniveau“, sagte ein Sprecher der Hamburger Polizei. Es seien daher keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen geplant.

■ London: Der Londoner Marathon am Sonntag mit seinen 36.000 Teilnehmern gehört mit Boston, Chicago, Berlin, Tokio und New York zu den wichtigsten Wettbewerben im weltweiten Marathonkalender. Der Sicherheitsplan werde nun überprüft, teilte die Leiterin der Metropolitan Police London, Julia Pendry, mit. Bislang waren vor allem die Tribünen besonders gesichert, auch am Ende des Marathons und der Straßenrennen. Bei den Olympischen Spielen 2012 garantierte die britische Armee die Sicherheit. Ob sie auch den Marathon bewacht, war gestern unklar.

■ Berlin: Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sieht Deutschland nicht in Gefahr. „Die Sicherheitslage in Deutschland hat sich nicht geändert“, sagte er. Sein Parteikollege, der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl, nutzte dennoch die Gelegenheit und forderte zum x-ten Mal die Einführung der Vorratsdatenspeicherung. (dzx2, dpa)

AUS WASHINGTON DOROTHEA HAHN

Die erste Bombe explodiert um 14 Uhr 42 auf der Boylston Street wenige Schritt vom Ziel entfernt. Nur 13 Sekunden später, nachdem bereits zahlreiche freiwillige Helfer zur Stelle der Explosion gestürzt sind, platzt 91 Meter entfernt die zweite Bombe im Boston Marathon. Bis zum Abend sind drei Zuschauer tot, darunter ein achtjähriger Junge, der seinem Vater beim Lauf auf der Zielgeraden zusehen wollte. 176 Menschen sind verletzt. Davon mehrere lebensbedrohlich. In den umliegenden Krankenhäusern finden mindestens zehn Amputationen statt. Der älteste Marathon in den USA endet in einem Blutbad.

Als die Bomben explodieren, sind die Spitzensportler bereits mehr als zwei Stunden im Ziel. Es ist der Moment, in dem der große Pulk der Hobby-Marathon-Läufer ins Ziel kommt. Darunter der 78-jährige Bill Iffrig, Läufer Nummer 19200, der auf der Straßenmitte stürzt. Er kommt mit ein paar Schrammen davon. Steht auf und humpelt weiter ins Ziel. Hinter den Absperrgittern, in den dicht gedrängten Zuschauerreihen, wo die Bombe verheerende Verletzungen anrichtet, bricht auf der Stelle Chaos aus.

Unzählige Kameras filmen den Terror live: Nachkommende Läufer, Zuschauer, Journalisten und Sicherheitsleute. Ihre Aufnahmen des Knalls, der schreienden Menschen, der mehrere Stockwerk hoch aufsteigenden Rauchfahne und der Fahnen, die weiter im Wind flattern, als wäre nichts passiert, gehen seither um die Welt.

Experten erkennen an den Bildern, dass es sich um „einfach“ gemachte Bomben handelt. Hergestellt aus Schießpulver, das in den USA zur heimischen Patronenproduktion überall leicht und billig erhältlich ist. Und die Bomben enthalten zahlreiche Metallteile, die dazu angetan sind, schwere Verletzungen anzurichten. Da Schießpulver eine verhältnismäßig geringe Sprengkraft entfaltet, ist die Druckwelle nicht so stark wie bei Sprengstoffbomben. Dennoch platzen die Fenster ringsum.

Im General Massachusetts Hospital fühlen sich Ärzte, die Notoperationen machen, an Afghanistan und den Irak erinnert. An Straßenbomben, die metallische Schrapnelle in die Körper ihrer Opfer bohren. Am Montagnachmittag rufen sie zu Blutspenden auf. Noch am selben Abend finden erste Kerzenmahnwachen quer durch die USA statt.

Am Morgen danach gibt es weder offizielle Verdächtige noch jemanden, der die Verantwortung übernimmt. Die üblichen Terrorismusexperten im Fernsehen wägen die Anzeichen für internationale Drahtzieher und „heimischen Terrorismus“ gegeneinander ab.

Die meisten Experten halten „hausgemachten Extremismus“ für die wahrscheinlichste Spur. Aber die Polizei schweigt. In der Nacht hat sie eine Wohnung in der Bostoner Vorstadt Revere durchsucht. Polizeisprecher sagen, dass sie mit mehreren Menschen „sprechen“. Aber von Verdächtigen ist keine Rede.

Sämtliche Sicherheitsbehörden haben ihre Fachleute nach Boston, der Hauptstadt von Massachusetts, geschickt. Die Innenstadt ist großräumig abgesperrt. Zahlreiche Schulen und Universitäten in der Stadt sind geschlossen. Sportveranstaltungen wurden abgesagt. Und landesweit finden an Flughäfen, Bahnhöfen und anderen sensiblen Plätzen sorgfältigere Kontrollen statt und es sind mehr Sicherheitskräfte im Einsatz, als sonst, auch am Weißen Haus in Washington.

Präsident Barack Obama hat drei Stunden nach den Explosionen eine kurze Ansprache gehalten. Deutlich erkennbar zieht er darin Lehren aus den Fehlern seines Amtsvorgängers im Umgang mit Attentaten: Er reagiert schnell. Er mahnt vor voreiligen Schuldzuweisungen. Und er vermeidet das Wort „Terrorismus“. Obama sagt: „Wir wissen noch nicht, wer es war. Aber wir werden es herausfinden. Und die verantwortlichen Individuen oder Gruppen werden das volle Gewicht der Justiz zu spüren bekommen.“

Im ersten Moment fühlen sich viele im Land an die Anschläge vom 11. September 2001 erinnert. An jenen Tag, als fast gleichzeitig Attacken auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington stattfanden. Andere fühlen sich beinahe ebenso schnell an heimische Ereignisse erinnert. Vor allem an die Lkw-Bombe des Jahres 1995 in Oklahoma, die 168 Menschen in den Tod riss. Übereinstimmend verstehen die Kommentatoren quer durch das Land die Bomben in der regionalen Metropole als ein nationales Ereignis. Keineswegs auf Boston beschränkt.

■ Boston: Der Anschlag auf den Marathon hat zu einem großen Medienecho geführt. TV-Sender waren live vor Ort. Die Videoplattform YouTube richtete einen eigenen Kanal ein, Google einen Suchdienst. Anschläge in anderen Ländern ergeben trotz größerer Opferzahl häufig nur eine Meldung.

■ Pakistan: In der Großstadt Peshawar hat am Samstag eine Bombe in einem Minibus mindestens neun Pendler getötet.

■ Somalia: In der Haupstadt Mogadischu starben am Sonntag 34 Zivilisten bei Angriffen.

■ Irak: Am Montag wurden sechs Autobomben in Kirkuk im Nordirak gezündet und dabei neun Menschen getötet. In Bagdad starben am selben Tag zehn Menschen durch Bomben.

■ Dilemma: Die Medienwelt wird von drei Fakten dominiert. Die vorhandenen Bilder, die Präsenz der Journalisten und die emotionale Nähe der Leser zum Land. So dürften mehr Deutsche die USA oder einen Marathon besuchen, als in einem Bus in Pakistan gesessen haben. Ein Dilemma, an dem auch die taz nicht vorbeikommt. (ga)

Der 15. April ist in den USA der „Tax Day“ – der Tag, an dem die Steuererklärung fällig ist. Im Jahr 2009 konstituierte sich an dem Tag die rechte Tea-Party-Bewegung, die heute viele Themen der konservativen Politik bestimmt. Im politisch eher liberalen Bundesstaat Massachusetts ist der 15. April der „Patriots’ Day“ – ein Feiertag, der an die ersten Schlachten im Unabhängigkeitskrieg gegen Großbritannien erinnert, die im April 1775 in Lexington und Concorde in Massachusetts Fanale setzten.

Der Boston Marathon ist das alljährlich wiederkehrende sportliche Hochereignis, mit dem die Stadt daran erinnert. In diesem Jahr war der Boston Marathon den Opfern des Massakers in der Grundschule von Newtown gewidmet, das vier Monate zuvor 26 Menschenleben gekostet hatte. Vor Beginn ihres Marathons hatten die Läufer am Montag für sie 26 Gedenksekunden abgehalten.

Die aus Boston stammende Journalistin Abigail Jones erinnert sich am Tag danach in der jüdischen Tageszeitung Forward an die „reine Freude“ des Marathons in ihren Kindertagen. Und sie zeigt sich überzeugt von der Stärke ihrer „Stadt auf dem Hügel“, die sich seit ihrer Gründung im Jahr 1630 als Symbol für die neuen Freiheiten in der neuen Welt verstanden hat.

Der Autor und Terrorismusexperte Bruce Schneier, der nach dem 11. September in zahlreichen Büchern tiefe Einschnitte in die Bürgerrechte, die Kriege und die explodierten Militärausgaben kritisiert hat, meldet sich schon wenige Stunden nach den Bomben von Boston zu Wort. Im Atlantic schreibt er: „Wenn wir uns terrorisieren lassen, dann haben sie gewonnen.“

Am Morgen danach titelt am anderen Ende des Landes die Los Angeles Times: „How do we move on?“