„Sie stellt ihre Figuren nie bloß. Das ist großartig“

LESEN Sabine Dörlemann publizierte die ersten Erzählbände Alice Munros. Deren Geschichten, sagt sie, könnten überall spielen

■ publizierte Was ich dir schon immer sagen wollte und Tanz der seligen Geister.

taz: Frau Dörlemann, was, wenn man Alice Munro nicht kennt?

Sabine Dörlemann: Da müssen Sie den ersten Band lesen, den sie jemals geschrieben hat: „Tanz der seligen Geister“ ist 1968 erschienen.

Ist in diesen Erzählungen schon alles enthalten, was ihr Werk ausmacht?

Ja. Alice Munro erzählt Familiengeschichten über Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, über Frauen, Freundinnen und Nachbarn. Dabei untersucht sie die zwischenmenschlichen Beziehungen, wenn auch oft zwischen den Zeilen. Sie seziert die Verhältnisse, die die Figuren untereinander haben, sehr scharf, stellt ihre Figuren aber nie bloß. Und das finde ich großartig an ihr.

Dörlemann ist ein kleiner, unabhängiger Verlag. Wie ist Alice Munro zu Ihnen gekommen?

Ich habe Amerikanistik studiert, und Alice Munro gehört unter Amerikanisten längst zum Kanon. Später habe ich festgestellt, dass die ersten Erzählbände nie auf Deutsch erschienen sind. Die späteren sind nach und nach erst bei Klett-Cotta, dann bei Fischer erschienen. Ich bin auf die Leute von Fischer zugegangen und habe sie gefragt, ob sie etwas dagegen hätten, wenn ich die ersten Erzählbände herausbringe. Sie fanden das eine sehr gute Idee und haben sich gefreut. So konnten wir ihre Werke parallel publizieren – mit dem Ergebnis, dass wir jetzt beide Nobelpreisträgerin-Verlage sind.

Eine Nobelpreisverleihung scheint keine Garantie mehr dafür zu sein, danach einen Bestseller im Programm zu haben. Rechnen Sie mit großen Umsätzen?

Wir sind ein bisschen vorsichtig, weil viele Bücher von ihr auf Deutsch lieferbar sind. Alice Munro ist im Buchhandel eine sehr gut eingeführte Autorin. Es gibt viele Buchhändlerinnen, die sie lieben und schätzen und auch gern verkaufen.Wir rechnen schon damit, dass wir ihre Bücher gut verkaufen können, wenn auch wahrscheinlich nur für relativ kurze Zeit. Wir freuen uns aber natürlich sehr, dass sie jetzt noch mehr Leserinnen und Leser finden wird.

Hat Alice Munro bereits den Status einer Klassikerin erreicht?

■ 82, ist auf einer Farm im kanadischen Bundesstaat Ontario aufgewachsen. Mit ihrem ersten Ehemann, einem Buchhändler, bekam sie drei Töchter. Nach ihrer Scheidung heiratete sie den Geografen Gerald Fremlin.

■ Munro studierte Journalistik an der University of Western Ontario. Ihr erstes Werk veröffentlichte sie 1968 im Alter von 37 Jahren: „Dance of the Happy Shades“, als „Tanz der seligen Geister“ 2010 auf Deutsch erschienen.

■ Zu ihren bekanntesten Werken gehören: „Kleine Aussichten“ (1971, dt. 1983); „Die Jupitermonde“ (1982, dt. 1986); „Der Mond über der Eisbahn“ (1986, dt. 1989); „Himmel und Hölle“ (2001, dt. 2004); „Wozu wollen Sie das wissen?“ (2006, dt. 2008); „Zu viel Glück“ (2009, dt. 2011); „Dear Life“ (2012).

Ja. Und sie ist eine Autoren-Autorin. Viele Autoren schätzen sie sehr, Eva Menasse etwa ist ein großer Fan von ihr. Und Jonathan Franzen wurde seit Jahren nicht müde zu sagen: Wenn jemand aus Nordamerika den Nobelpreis verdient hätte, dann Alice Munro.

Wie wichtig ist Alice Munros Heimatland in ihren Werken?

Ihre Bücher spielen in Kanada, in dem County in Ontario, in dem sie geboren und aufgewachsen ist. Sie sind also genau verortet. Aber zugleich sind sie allgemein gültig, sie könnten überall spielen. INTERVIEW: ULRICH GUTMAIR