„Wir nennen nur die harte Realität beim Namen“

AKTION Die wenigsten Flüchtlinge, die an der spanischen Grenze mit den weißen Kreuzen der deutschen Maueropfer fotografiert wurden, werden ihren Weg in die EU überleben, sagt Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit. Mit Zynismus will seine Gruppe jedoch nichts zu tun haben – nur mit Empathie

■ hat politische Philosophie studiert und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gearbeitet. Er ist Theatermacher, Regisseur sowie Gründer und künstlerischer Leiter des Zentrums für Politische Schönheit.

taz: Herr Ruch, warum ist für Sie schon jetzt absehbar, dass die Gedenkfeiern den Mauertoten nicht gerecht werden? Warum mussten die weißen Kreuze die Flucht ergreifen?

Philipp Ruch: Weil sie zutiefst erschrocken sind über das Nichtgedenken an die Mauertoten in den letzten 25 Jahren, also das Nichtgedenken an ihre Brüder und Schwestern. Das hat sie dazu gebracht, an die EU-Außengrenze zu flüchten. Sie wollen sich nicht vom deutschen Gedenkkartell instrumentalisieren lassen.

Warum fällt es Deutschen so schwer, Empathie für Flüchtlinge zu empfinden?

Ich hoffe, dass dem nicht so ist. Die Leute sind nicht zynisch, sondern vor allem uninformiert. Bei den meisten, die jetzt der Maueropfer in Deutschland gedenken, ist es noch gar nicht angekommen, dass die EU nun eine Außenmauer hat. Und dass Grenzschützer auf diejenigen, die etwa von Marokko aus nach Spanien fliehen, Jagd machen.

Ist es dann nicht eine Zumutung, dass Sie genau diesen Menschen weiße Kreuze vorbeibringen – nach dem Motto: Ihr seid die nächsten, die sterben?

Das ist es. Aber die wenigsten, die wir mit den Kreuzen fotografiert haben, werden überleben. Das ist die harte Realität. Wir nennen sie beim Namen.

Worin unterscheidet sich Zynismus von Provokation?

Mit beidem will ich als künstlerischer Leiter der Aktion nichts zu tun haben. Mir geht es darum: Wie stellt man Empathie her? Das ist für mich die moralische Pflicht von Künstlern. In dem Moment, in dem wir uns die Not dieser Menschen vorstellen können, kann sich etwas verändern. Ein Mensch ist zuallererst ein Mensch – egal ob er nun schwarz, Frau, Mann oder Kind ist, arm oder reich. In unseren Augen bricht das EU-Grenzregime mit seinen Mauern oder „Eindämmungsanlagen“ mit dem Völkerrecht.

Wäre die EU nicht überfordert, alle Flüchtlinge aufzunehmen?

Nein. Die Bevölkerung der EU schrumpft massiv, und auch Deutschland schrumpft jedes Jahr um etwa 300.00 Menschen. Die Asylanträge liegen weit unter dieser Zahl. Unsere Wirtschaft braucht Einwanderung, das sagen alle Arbeitgeberverbände. Und was wollen diese Menschen, die 19, 18, 17 Jahre alt sind? Sie wollen in Europa eine Berufsausbildung machen, viele wollen danach in ihr Land zurückkehren. Was ist dagegen einzuwenden? Wir suchen in Deutschland händerringend nach Lehrlingen.

INTERVIEW: INES KAPPERT