Überwachen und überwacht werden

WIKILEAKS Dokumente beweisen: Drei französische Präsidenten wurden von der NSA abgehört. Präsident Hollande reagiert nur ein bisschen empört – und weitet die Befugnisse für die eigenen Geheimdienste aus

„Als einzige Regel in Sachen Abhören gilt, sich nicht erwischen zu lassen“

FRANÇOIS HEISBOURG

AUS PARIS RUDOLF BALMER

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung neuer Wikileaks-Dokumente durch die Zeitung Libération und das Online-Magazin Mediapart war nicht zufällig gewählt. Am Mittwoch wurde in der Französischen Nationalversammlung ein neues Antiterrorgesetz verabschiedet, das den polizeilichen Nachrichtendiensten in Sachen Überwachung von Telefongesprächen und Internetkommunikation weitgehend freie Hand gibt. Die französischen Geheimdienste werden befugt, nicht nur Verdächtige zu überwachen, sondern auch Metadaten der Kommunikation bis zu vier Jahre lang zu speichern und auszuwerten. Bei ausländischen Zielpersonen wie Politikern, Diplomaten oder Geschäftsleuten wird sogar eine Kontrolle durch die Aufsichtsbehörde ausgeklammert.

Die Veröffentlichung einiger ausgewählter Dokumente der telefonischen Überwachung der französischen Präsidenten Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und François Hollande sowie ihrer Mitarbeiter soll die französische Öffentlichkeit aufrütteln. Wie ein Echo auf den neuen NSA-Skandal taucht nämlich unweigerlich die Frage auf, was denn Frankreich in diesem Bereich tut. Denn selbstverständlich bespitzeln und belauschen auch die Pariser Geheimdienste nicht nur potenzielle Staatsfeinde oder Terroristen, sondern auch Partner und politische Freunde. Der Sicherheitsexperte François Heisbourg meint dazu in Libération ironisch: „Als einzige Regel in Sachen Abhören gilt, sich nicht erwischen zu lassen.“

Da nun aber die NSA-Praktiken in Frankreich publik geworden sind, musste die Staatsführung öffentlich Stellung nehmen. Präsident Hollande berief die wichtigsten Regierungsmitglieder zu einem „Verteidigungsrat“ ein und empfing dann Delegationen beider Parlamentskammern zu einer Aussprache. Das Signal dieser eher symbolischen Gesten: Das Staatsoberhaupt nimmt den Lauschangriff ernst. Die Sicherheit der Französischen Republik sei durch den Lauschangriff wenn nicht infrage gestellt, so doch zumindest tangiert worden.

Im Anschluss an die Krisentreffen wurde ein relativ banales Kommuniqué veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass Hollande schon 2013 und bei seinem Staatsbesuch in den USA 2014 gegen die telefonischen Überwachung protestiert habe. Und niemand kann ihm heute garantieren, dass dieses Ersuchen etwas bewirkt hat. Die US-Behörden haben ja nur kurz mitgeteilt, „gegenwärtig“ werde Hollande nicht (mehr) abgehört. Die Opposition in Frankreich verlangte eine offizielle „Entschuldigung“ von US-Präsident Barack Obama. Der Chef der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, verlangte den Abbruch der Verhandlungen über das transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP.

Während die französische Öffentlichkeit eine starke Reaktion erwartete, beschränkte sich Hollande darauf, in seiner Mitteilung den Lauschangriff als „inakzeptabel“ zu qualifizieren. Er hat dann aber auch – wie dies bei diplomatischen Zwischenfällen üblich ist – die US-Botschafterin ins Pariser Außenministerium zitieren lassen. Dort sollte sie rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist. Selbstverständlich kann auch sie den Pariser Partnern keine Garantie geben, dass die NSA zukünftig mehr Zurückhaltung an den Tag legen wird. Denn auf dem Dach ihrer eigenen Botschaft, nur ein paar Schritte vom Élysée-Palast entfernt, befindet sich seit 2004 eine der wichtigsten für NSA und CIA tätigen Spionagezentralen des „Special Collection Service“ (SCS). Weltweit gibt es rund 80 solcher SCS-Abhörzentralen, etwa in Berlin, Genf, Warschau oder Madrid. Aufgrund dieser seit 2013 bekannten Informationen wusste man auch, dass in der französischen Botschaft in Washington und der Vertretung bei der UNO in New York zur Bespitzelung der Diplomaten Wanzen versteckt worden waren.

Mit welchen technischen Mitteln genau die Mobilfunkgespräche der Präsidenten sowie ihrer wichtigsten Mitarbeiter und Berater zwischen 2006 und 2012 abgehört wurden, geht aus den Wikileaks-Dokumenten nicht hervor. Die Rede ist von „nichtkonventionellen“ Methoden und einem „ausländischen Satelliten“. Der Inhalt der jetzt enthüllten Konversationen im Élysée lässt jedoch den Schluss zu, dass die NSA ein breit gefächertes Interesse an Frankreich hatte und zum Teil mit enormem Aufwand sehr banale Dinge herausfand. So etwa, dass Chiracs ehemaliger Außenminister ein Schwätzer sei, der vom Präsidenten mehrfach wegen seiner Äußerungen gerügt worden ist.

Was da als topsecret klassifiziert wurde, hätten die Schnüffler des US-Geheimdienstes mit viel weniger Aufwand und Kosten in der Zeitung lesen können, schrieb Libération-Redaktionsleiter Johan Hufnagel. Staatsgeheimnisse sucht man vergebens, auch wenn etwa Meinungsverschiedenheiten von Hollande mit der „kompromisslosen“ Kanzlerin Merkel bezüglich der Schuldenkrise und eines Austritts Griechenland aus dem Euro oder ein „Geheimtreffen“ mit der SPD und dessen mögliche diplomatische Konsequenzen erwähnt werden.

Die Wikileaks-Auszüge beweisen dagegen, dass die Überwachung der NSA sogar bis in die Privatsphäre befreundeter Staatschefs ging. Dass Frankreich selber gleichzeitig sein Abhörarsenal mit einem „Antiterrorgesetz“ gewaltig aufrüstet, ist im Lärm der Proteste gegen den NSA-Lauschangriff fast völlig untergegangen.