Was zählt denn nun wirklich?

ZWEIFEL Haben sich das Post-1968er-Milieu und die Grünen zu sehr auf Minderheiten und die Liberalisierung von Lebensentwürfen fixiert?

VON PETER UNFRIED

Eine Gesellschaft sucht sich ihre Tabus selbst heraus, sagt George Packer, Autor des Bestsellers „Die Abwicklung“, einer großen Bestandsaufnahme der US-amerikanischen Gesellschaft. Diskriminierung von Minderheiten ist heute tabu, rassistische Sprache ist tabu, als Chef die Sekretärin bumsen, sagt er, ist „ziemlich tabu, obwohl die Chefs es tun“. Leute rausschmeißen und ihnen keine Alternative mehr geben werde dagegen hingenommen.

„Wir haben unsere Tabus geändert“, sagt Packer. „Es ist nicht mehr okay, Rassist zu sein, aber es ist okay, das Leben von Menschen zu vernichten.“ Was er als Indiz nimmt, dass speziell der von 1968 geprägte Teil der Gesellschaft zwar Haltungen verbessert hat, damit aber so ausgelastet war, dass er gar nicht mitgekriegt hat, was sich zum Schlechteren veränderte. Die große Frage, die der Gedöns-Kongress der taz aufwerfen muss, lautet demnach: Waren diejenigen, die sich für progressiv halten, in den letzten fünfzig Jahren zu fixiert auf Gedöns, was in diesem Fall die Kämpfe für diskriminierte Minderheiten und die Liberalisierung von Lebensentwürfen meint? Es geht nicht darum, diese Errungenschaften abzuwerten – das Binnen-I vielleicht ausgenommen. Auch Packer ist froh, wenn Homosexuelle nicht mehr diskriminiert werden. Aber der emanzipatorische Fortschritt bringt ihnen in entscheidenden Bereichen nichts, so Packer, und setzt das in Relation zu den negativen Entwicklungen: schlechtere Schulausbildung, sinkende Chancen auf sozialen Aufstieg, schwindende Sicherheit, geringere Löhne, dünner werdende soziale Netze und Rückgang des Respekts vor den ArbeiterInnen und deren Arbeits- und Lebensleistung.

Robin Alexander hat in einem Essay in der Welt („Wem nutzt der Code der Gleichstellung?“) unlängst darauf hingewiesen, dass die linke Ikone Naomi Klein schon in ihrem Antiglobalisierungsbestseller „No Logo“ schrieb, man habe die Globalisierung verpasst, während man dafür kämpfte, dass Juden zum Arbeitskreis Rassengleichstellung im Frauenzentrum der Universität zugelassen wurden. Auch Packer ist kein Neocon, sondern ein klassischer US-Ostküsten-Linker. Es geht nicht darum, die Erfolge der Identitätspolitik abzuwerten. „Ich bin stolz auf unsere kleinen Siege“, schreibt Klein.

Es geht auch darum, ob Packers und Kleins Einschätzung, dass „wir bestimmte Schlachten nie geschlagen haben“, ernst genommen oder mit genau den Argumenten der Political Correctness abgelehnt wird, die damit hinterfragt werden. Wir haben George Packer und Naomi Klein zum taz.lab eingeladen und hoffen, dass sie die Einladung annehmen.

Womit wir bei den Grünen wären, der Partei, die aus der deutschen 68er Bewegung hervorging und deren Kern laut allgemeiner Beteuerung der klimafreundlich-ökologische Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft ist. Als aber Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann aussprach, dass die Grünen im Sinne einer globalen Gerechtigkeitspolitik eine „Wirtschaftspartei“ sein müssten, gab es in Berlin murmelnden Widerspruch: prinzipiell richtig, klingt aber nicht so gut. In der „Krise der politischen Identität der Alternativen“, wie Jan Feddersen in der taz schrieb, konzentriert man sich auf Haltungsnoten.

Genau das nicht zu tun ist aber die moralische Verpflichtung. Die großen Errungenschaften seit der Aufklärung sind Freiheit und Individualisierung. Alles andere als Gedöns. Aber nun ist das Ganze nicht mehr der Ort, von dem es sich zu distanzieren gilt. Das Ganze ist auch der Ort, auf den alles zulaufen muss. Das ist jetzt etwas ungewohnt und unbequem und könnte den Markenkern verwässern, aber haben wir sonst keine Sorgen?

Peter Unfried, 51, ist Chefreporter der taz