BERLINER PLATTEN
: Ein Teller bunte Knete mit Meta-Polka, einem Reclam-Heftchen Techno und intensivem rockmusikalischem Grau: ErsatzMusika, Robosonic und Polaroid Liquide

Der Kater ist langsam verraucht, ein neues Jahr hat begonnen, und die Aufräumarbeiten fördern Verdrängtes aus dem alten zutage. Diese kleine Kolumne gibt sich ja alle Mühe, das Musikschaffen in der Hauptstadt abzudecken, aber auch sie vergisst hin und wieder etwas. Also jetzt: zu Unrecht nicht Berücksichtigtes aus 2007 und fast allen Genres.

ErsatzMusika tragen einen leicht missverständlichen, nichtsdestotrotz sehr treffenden Bandnamen. Denn zwar haben wir es eindeutig zu tun mit der in Berlin ja nun schon einige Jahre sehr beliebten osteuropäischen Folklore, die auch hier sanft in die Neuzeit befördert wird. Aber die sechsköpfige Band, die ausschließlich aus sowjetischen Exilanten besteht, die Anfang der Neunzigerjahre nach Berlin zogen, infiziert auf „Voice Letter“ das sonst so handfeste, stets feierlaunige Genre mit Jazzeinflüssen und spielt es dann auch noch so verhuscht und ätherisch, ja fast schon verpennt, dass eine Art Zigeuner-Dub entsteht oder Wladimir Kaminers Russendisko in Zeitlupe. Noch mehr mögliche Schubladen für diese Musik: Minimal Folk, Meta-Polka oder einfach Cool Jazz auf Wodka. Man merkt: Das neue Jahr ist noch nicht alt, die Sätze sind lang und die Begriffe noch ziemlich unbefestigt.

Ähnlich entspannt kommen Robosonic daher. Das Berliner DJ-Team aus Sacha Robotti und Cord Henning Labuhn, der momentan in Buenos Aires studiert, hat mit „Sturm und Drang“ eine nachgerade klassische Technoplatte programmiert, die aber ganz in Ruhe alle Eigenheiten des Genres seziert und sie in nahezu akademischer Genauigkeit wieder ausstellt. Man kann dazu auch tanzen, sicher, aber das Schönste an „Sturm und Drang“ ist die Gestaltung: Aufgemacht im Layout und in dem grellen Gelb der Reclam-Büchlein, das einen unweigerlich in die Schulzeit zurückversetzt, ist das Album die allererste Wahl, wenn man einen verschnupften Intellektuellen zur Dancefloorkultur würde bekehren wollen. Und die Tracks tragen Titel aus der Weltliteratur: „Die Blechtrommel“ ist ein komplex groovendes Stück für Schlauberger, „1984“ eine auf Meeresrauschen basierende Träumerei und „Die Verwandlung“ dreieinhalb Minuten bedrohlicher akustischer Horror.

Auch Polaroid Liquide sind eher zurückgelehnte Gesellen. Auf ihrem Debütalbum erforscht das Berliner Quartett, was man heutzutage noch mit einer klassischen Rockbesetzung anstellen kann. Das heißt vor allem, dass der Gitarre fast alle Freiheiten gelassen werden, sie mal schrammeln, mal dicke Wände bauen darf und dann wieder traumverloren durch endlose Hallräume gekitzelt wird. Und das mitunter auch in einem einzigen Stück, denn selbst wenn Polaroid Liquide sich bisweilen um so etwas wie einen Song bemühen, herrscht doch grundsätzlich eine eher improvisierende Atmosphäre, und auch der Gesang wird meist nur behandelt wie eine weitere Klangfarbe. Der perfekte Soundtrack für die ersten Tage eines neuen Jahres, für die Zwischenzeit, in der einem undifferenzierte Grautöne Raum lassen, mal intensiver der Musik hinterherzuhören. THOMAS WINKLER

ErsatzMusika: „Voice Letter“ (Asphalt Tango/Indigo). Konzert 9. 1., Schokoladen

Robosonic: „Sturm und Drang“ (Diskomafia/Diskomania)

Polaroid Liquide (Tumbleweed/ Broken Silence)