Familientherapeut Krabbe über Gewalttaten: "Väter geben Männermythen weiter"

Er hilft Männern, Emotionen ohne Gewalt auszudrücken. Gewaltberater und Therapeut Jürgen Krabbe über Männerklischees, Ohnmachtsgefühle und Täter-Verantwortung

"Wenn Männer richtig wütend und traurig sein könnten, müssten sie nicht schlagen." Bild: dpa

taz: Herr Krabbe, am 25. November begingen wir mal wieder den Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen. Müsste man nicht die Täter eher benennen als die Opfer? Die sind doch das Problem.

Jürgen Krabbe: Da ist etwas dran. Ich habe viele Jahre Opferarbeit gemacht. Die kam mir oft vor wie ein Fluss: Wir ziehen ein Opfer nach dem anderen aus dem Fluss, die hat irgendjemand woanders hineingeworfen. Irgendwann wollte ich lieber den angehen, der die Menschen in den Fluss wirft. Aber wichtig ist beides, man braucht also den Tag nicht umzubenennen.

Wer schlägt seine Frau? Ist das eine besondere Gruppe?

Es sind Männer, die in ihrer Jugend gelernt haben: "Wehr dich, egal wie. Du musst der Stärkere sein." Viele halten sich selbst für friedfertig, und sie tragen dennoch dieses "Programm" in sich. Wenn die sich genügend provoziert fühlen, dann läuft dieses Programm ab und sie schlagen zu.

Ein Programm, gegen das man nichts machen kann?

Doch, man kann. Es gehört immer eine Entscheidung dazu, Gewalt anzuwenden. Viele Männer hatten die Möglichkeit, dieses Männerklischee so weit zu relativieren, dass sie die Entscheidung gegen Gewalt treffen können. Die anderen müssen es nun lernen.

Es heißt, wer schlägt, ist selbst früher geschlagen worden. Stimmt das?

Nicht unbedingt. Bei uns hat etwa die Hälfte der Gewalttäter selbst Erfahrung als Opfer, die andere Hälfte nicht.

Die Polizei siedelt die Gruppe schlagender Männer in einem Milieu sozialer Verwahrlosung an. Bestätigt sich das in Ihrer Praxis?

Nein. In diesem Milieu wird bei Schlägereien die Polizei gerufen. Die Arzt- oder Anwaltsfrau hat andere Möglichkeiten. Aber hier in unserer Beratung haben wir den Rechtsanwalt, den Psychologen, den Geschäftsführer eines großen Unternehmens. Gewalt und Bildung schließen sich nicht aus. Entscheidend ist, dass der Mann mit Ohnmachtsgefühlen nicht umgehen kann. Auch die sprachgewandtesten Männer sagen: Gegen die Emotion meiner Frau komme ich nicht an. Sie fühlen sich ohnmächtig, und das ertragen sie nicht.

Klischeegerecht macht die Frau eine Szene, das kann man sich leicht vorstellen. Aber der Mann bleibt doch üblicherweise ganz cool, oder?

Ja. Und gerade die, die am coolsten bleiben, schlagen am Ende zu. Weil sie ihre eigenen Emotionen die ganze Zeit unter Verschluss gehalten haben. Schlagende Männer leiden an Aggressionshemmungen. Wenn sie richtig wütend, traurig und enttäuscht sein könnten, dann müssten sie nicht schlagen.

Die Sozialisation als Junge ist schuld?

Eine missglückte Sozialisation von Jungen ist schuld. Kürzlich war ein Vater hier: Sein kleiner Sohn war in der Schule von drei Jungs verprügelt worden und hatte ihn gefragt, was er tun solle. Der Vater sagte: Wehr dich! Der Sohn wurde am nächsten Tag mit einem Baseballschläger in der Schule erwischt und bestraft. Der Vater hatte dem Sohn keine Konfliktkompetenz beigebracht. Mädchen lernen sehr viel Sozialkompetenz. Jungen werden mit ihren Ohnmachtserfahrungen allein gelassen.

Was hätte der Vater seinem Sohn raten sollen?

Bei einem Konflikt drei gegen eins hat der Sohn allein keine Chance. Der Vater hätte mitgehen und die Jungen zur Rede stellen müssen. Er hat den Konflikt verniedlicht, weil er selbst konfliktscheu ist. Wenn das nichts genutzt hätte, wären deren Eltern dran gewesen, im Extremfall sogar die Polizei.

Wie arbeiten Sie mit gewalttätigen Männern?

Wir intervenieren an verschiedenen Punkten in einem Gewaltkreislauf. Wichtig ist, dass der Täter Verantwortung für die Tat übernimmt. Man kann sich für eine Gewalttat nicht "entschuldigen", wie es die Männer immer gerne mit einem Blumenstrauß tun. Damit hat man sich freigesprochen und kann beim nächsten Mal wieder zuschlagen. Mit der Verantwortung erkennt der Täter auch seine bewusste Entscheidung zum Schlagen an. Und das Wichtigste ist: die Gefühle, deren Verdrängung zum Ausbruch führen, wahrzunehmen. Viele Männer meinen, man müsse möglichst sachlich bleiben. Damit würgen sie sich selbst regelrecht ab.

Gefühle wahrzunehmen ist nicht gerade das Hobby herkömmlicher Männer, oder?

Deshalb verwenden wir darauf viel Arbeit. "Ich fühl mich schlecht" ist oft das Einzige, was Männer merken. Dann zeige ich auf eine Liste mit verschiedensten Gefühlen: Wut, Trauer, Enttäuschung, Angst, Freude und frage: Welches kommt denn dem "schlecht" am nächsten? So arbeiten wir uns langsam vor. Die Gefühle zu formulieren bietet einen Ausstieg aus der Ohnmacht.

Wie kann der Mann sich denn konkret in einer eskalierenden Situation verhalten?

Wir arbeiten darauf hin, dass er die negativen Gefühle dann nicht verdrängt, sondern formuliert. Dass er sagt: Stopp, jetzt bin ich von der Situation überwältigt, ich will jetzt nicht weiterstreiten. Wir müssen die Auseinandersetzung später weiterführen. Wir Gewaltberater können nicht den Konflikt verhindern, wir können aber helfen, Konflikte anders zu lösen.

In letzter Zeit wird viel über das archaischere Männerbild vieler Zuwanderer geredet. Gibt es da einen entscheidenden Unterschied?

Es gibt kulturelle Unterschiede. Aber ehrlich gesagt: Das grundlegende Männerbild "Du musst groß und stark sein, dich durchsetzen und zu Hause die Hosen anhaben", das ist überall sehr ähnlich. Die meisten Väter leben ihren Söhnen nicht vor, wie man Konflikte gut lösen kann. Im Gegenteil, sie geben Männermythen weiter, weil sie vor ihrem Sohn als Held dastehen wollen. Das tun die Deutschen nur in anderer Weise als die Anatolier.

Die Frauen wollen doch starke Männer, klagen die Männer dann.

Das ist eine Ausrede. Frauen wollen einen starken Partner. Sie verstehen unter stark aber einen Mann, der selbstbewusst und emotional präsent ist. Die Männer verstehen das schlicht falsch. Dabei sind all diese Emotionen in ihnen genauso abrufbar wie bei den Frauen.

Wirklich? Gerade ist die These von der genetischen Unterschiedlichkeit der Geschlechter groß in Mode.

Das ist doch sehr oberflächlich. Jungen spielen nicht mit Puppen, heißt es immer. Das ist eine geschlechterblinde Sichtweise. Alle Jungen haben eine Puppe, nämlich den Teddy. Der wird ab einem bestimmten Alter dann versteckt, wenn die Freunde zu Besuch kommen, und das sicher nicht aus genetischen Gründen. Jungen wird heute noch oft Sensibilität aberzogen. Wenn eine Mutter zu mir sagt: Der Junge weint so oft, der ist so sensibel, dann möchte ich sagen: Seien Sie doch froh! Viel zu viele Jungen werden zu hart gemacht.

Männer sind generell nicht so schnell bereit, eine psychologische Beratung anzunehmen, oder?

Richtig. Wir haben auch das große Schild "Männer gegen Männergewalt" an unserer Tür abgehängt. Das ist jetzt alles ganz unauffällig. Auch gegen Psychologen haben viele Männer große Vorurteile.

Wer zum Psychologen geht, muss verrückt sein. Wie nennen Sie sich?

Ich bin Gewaltberater. Wenn wir sagen: Sie sind nicht krank, sie haben sich für ein problematisches Verhalten entschieden - dann kommt das schon mal anders an. Wir sagen auch nicht: "Was fühlen Sie?" Die Psychologie hat oft eine Sprache, die den Frauen sehr entgegenkommt. Für Männer braucht man ein anderes Vokabular, mit dem sie etwas anfangen können.

Aber wann kommen Männer überhaupt zu ihnen?

Wenn der Leidensdruck zu groß wird. Im Moment ist es oft noch so: Die Frau läuft weg und nach der "Entschuldigung" des Mannes kommt sie zurück. Der Mann lernt, dass er sich nicht ändern muss. Da entsteht kein Leidensdruck.

Muss eine Frau immer erst ausziehen, bevor ein Mann sich ändert?

Das ist schwierig. Es hilft schon viel, wenn sie sagt: Ich bleibe nur mit dir zusammen, wenn du an diesem Problem arbeitest. Dazu muss eine Frau aber sehr klar sein. Oft sind die Frauen schon sehr verängstigt und wagen es nicht, Forderungen zu stellen. Deshalb sind ja die Opferberatungen auch so notwendig und sinnvoll.

Männeraktivisten klagen, dass männliche Gewaltopfer gar nicht wahrgenommen werden. Sehen Sie das auch?

Bei den bekannten körperlichen Gewalttaten in Beziehungen sind 95 Prozent der Täter Männer. Da ist eine gewisse Konzentration auf diese Gruppe wohl verständlich.

Anonyme Befragungen im Dunkelfeld kommen zu dem Ergebnis, dass Frauen ähnlich oft gewalttätig werden wie Männer.

Wir fangen gerade erst an, öffentlich über Ohnmachts- und Opfererfahrungen von Männern zu reden. Dass die Frauen mit ihrer politischen Arbeit einen Vorsprung haben, kann man ihnen doch nicht übel nehmen. Wir bilden übrigens auch Frauen aus, die gewalttätige Frauen beraten.

In letzter Zeit machen Gerichte öfter Schlägern zur Auflage, dass sie einen Täterkurs machen. Ist ein solcher Zwang sinnvoll?

Interessanterweise ist es ja kein Zwang, wie die Männer es auch gerne darstellen, sondern eine Entscheidung. Man kann entweder ins Gefängnis gehen oder zu uns kommen. Diese Alternative halte ich für sehr sinnvoll. Wir geben den Männern die Verantwortung zurück.

Sind wir damit also gut gerüstet?

Nein, wir sind erst am Anfang. Ich wünsche mir zum Beispiel eine aufsuchende Täterarbeit. Im Moment wird bei häuslicher Gewalt die Opferberatung informiert, die dann zum Opfer geht und es berät. Aber was passiert mit dem Täter? Gut wäre, wenn auch Täterberater eingeschaltet würden und sie dem Täter ein Angebot machen könnten. Und wenn ich noch einen Appell aussenden darf: Liebe Väter, nehmt die Gefühle eurer Jungs ernst. Der Satz "Ach, das ist doch halb so schlimm" sollte verschwinden.

INTERVIEW: HEIDE OESTREICH

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